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Gesellschaft

Das Millionengeschäft mit den Abschiebungen

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Das MDR-Magazin „Fakt“ behandelte im März die Umstände, die zur Abschiebung einer türkischen Staatsbürgerin führten. Im Fokus der Sendung stand dabei die Frage nach der Approbation des ärztlichen Gutachters. Der Fall legte jedoch eine dubiose Praxis offen.

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Das MDR-Magazin „Fakt“ behandelte im März die Umstände, die zur Abschiebung einer türkischen Staatsbürgerin. Der Fall legte eine dubiose Praxis offen.
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Wie kann es sein, dass ein Mann Jahrzehnte lang ärztliche Gutachten für Behörden ausstellt, ohne dass die staatlichen Stellen jemals überprüfen, ob es sich bei dem Gutachter wirklich um einen Arzt handelt? Noch dazu, wenn der Gutachter über das Schicksal von tausenden Menschen entscheidet? Mit dieser brisanten Frage beschäftigte sich das MDR-Magazin „Fakt“ in der Sendung vom 31.03.2015, nachdem bei Recherche-Arbeiten Hinweise auf einen solchen Fall bei der Berliner Ausländerbehörde aufgetaucht waren.

Konkret handelt es sich um einen als ärztlicher Gutachter arbeitenden Mann namens Rainer Lerche. Laut „Fakt“ haben mehrere Behörden Lerches Dienste über Jahrzehnte in Anspruch genommen, ohne dass ein Nachweis für seine Qualifikation als Arzt vorläge. Die „Fakt“-Journalisten wurden auf Lerche aufmerksam, als sie den Hintergründen der Abschiebung der 31-jährigen türkischen Staatsbürgerin Banu Olgun vom 15. Dezember von Berlin nach Istanbul nachgingen. Berliner Anwälte hatten damals deren Abschiebung angefochten. Lerche war offenbar in den Prozessakten als Gutachter aufgetaucht. Aus einem internen Vermerk eines Richters geht „Fakt“ zufolge hervor, dass „niemand jemals die Approbation des Mannes gesehen hat. Seit 35 Jahren nicht“. Einzige Kontaktmöglichkeit der Richter zu Lerche war scheinbar lediglich eine Faxnummer in Berlin und eine Adresse in Kassel (über deren Richtigkeit „Fakt“ Zweifel äußert). Eine eigene Praxis habe er nicht.

Gegenüber der Zeitung Junge Welt betonte der einer der Anwälte der jungen Frau, Rechtsanwalt Hans Georg Lorenz, dass weder die Behörden noch die Polizei überprüft hätten, ob Gutachter Lerche überhaupt eine Approbation als Arzt hatte und demzufolge auch nur in einem einzigen Fall tätig werden durfte. Obwohl der Berliner Ausländerbehörde weder Lerches Meldeadresse noch seine Kontonummer bekannt gewesen seien, hätten sie ihn ständig beauftragt. „Wie kann man jemandem Aufträge geben, die tief in das Leben eines Menschen eingreifen, sogar dessen Tod bedeuten können, wenn man von ihm nur die Handynummer hat und nur über eine Inkassofirma Honorare zahlt?“, so Lorenz gegenüber „junge Welt“.

Fakt. Sendung vom 31.03.2015Rechtswidrige Abschiebungen in die Türkei und die dubiosen Gutachter der Berliner Behörden.

Posted by Rechtsanwalt Hans-Georg Lorenz on Mittwoch, 15. April 2015

Abschiebe-Honorar: „Erhebliche rechtliche Bedenken“

Der in diesem Fall verantwortliche Innensenator Berlins Frank Henkel (CDU) wurde von „Fakt“ mit der Aussage zitiert, man habe den Mann auf der Grundlage beschäftigt, dass er auf Honorarbasis im ärztlichen Dienst der Berliner Polizei und der Bundespolizei gewesen sei. In einem Bericht der Berliner Morgenpost hieß: „Ein Schreiben der Ärztekammer Berlin, welches der Berliner Polizei vorliegt, bestätigt, dass Herr L. Mitglied der Ärztekammer war und die Approbation vorlag“. Laut Angaben der Berliner Zeitung handelt es sich bei Rainer Lerche um einen 63 Jahre alten Rentner, dessen berufliche Erfahrung als Arzt auf „bis auf zwei, drei Jahre im Virchow-Krankenhaus“ beschränken.

Zweifel an der Rechtmäßigkeit der auf Lerches Gutachten hin erfolgten Abschiebungen bleiben aus einem anderen Grund jedoch bestehen, denn der Fall legt eine dubiose Praxis offen.

Lorenz erklärte, dass die Behörden Lerche offenbar „gezielt eingesetzt“, um Individuen abschieben zu können. Im Gegenzug für das Ausstellen der Abschiebe-Bescheinigungen – deren Rechtmäßigkeit nun angezweifelt werden – erhielt Lerche ein stattliches Honorar: Pro Gutachten hat er dem „Fakt“ Bericht nach mindestens 180 erhalten. Kommt es zu einer Abschiebung, so steigt Lerches Honorar: Wird auf Grund seiner Bescheinigung eine Abschiebung beschlossen, kassiert er ein zusätzliches Honorar von 800-900 Euro für die Begleitung der Personen, deren Abschiebung er durch sein Gutachten erst möglich gemacht hat.

Eine dubiose Praxis der Behörden und des vermeintlichen Arztes, an dessen Integrität angesichts des Abschiebe-Honorars nun Zweifel geäußert werden. Die Berliner Zeitung berichtete, dass diese Interessenverquickung dem Verwaltungsgericht aufstieß, da die Kombination als „eine Art medizinischer Sachverständiger“ für die Ausländerbehörde und als gleichzeitig als Flugbegleiter für die Polizei „erheblichen rechtlichen Bedenken“ begegne, „weil der Zeuge Lerche an der Feststellung der Flugfähigkeit ein nicht unerhebliches eigenes finanzielles Interesse als Flugbegleiter haben dürfte“. Lerche habe der Berliner Zeitung zufolge in der Verhandlung eingeräumt, dass er das Flughonorar verloren hätte, wenn er die Flugfähigkeit der Abzuschiebenden verneint hätte.

Abschiebe-Doktor: Seit den 1970er Jahren 50.000 Verwahrbescheinigungen ausgestellt

Das Gericht hatte sich demnach Anfang April mehrere Stunden mit dem Arzt befasst und kam zu dem Schluss, dass Lerche für diesen Fall schlicht inkompetent sei. Die Feststellungen Lerches zur Flugfähigkeit seien „unbrauchbar“. Der Arzt sei „ungeeignet“ gewesen, die Flugfähigkeit überhaupt festzustellen, so in der Berliner Zeitung zu lesen. Lerche habe lediglich eine Ausbildung als praktischer Arzt. Zu Feststellung einer psychischen Erkrankung sei er überhaupt nicht in der Lage gewesen. Das Berliner Verwaltungsgericht erklärte die Abschiebung von mittlerweile Olgun für rechtswidrig.

Dem „Fakt“-Bericht zufolge handelt es sich dabei keineswegs um einen Einzelfall. Personen, die „von einer Ausländerbehörde zur anderen zu reisen und Gutachten zu erstellen, die bei den Behörden gut ankommen“ nenne man Lorenz zufolge intern bei der Ärztekammer „Rucksackbegutachter“. Lerche soll eigenen Angaben zufolge seit Ende der 1970er Jahre für die Ausländerbehörde, die Berliner Polizei und die Bundespolizei arbeiten, für diese Behörden Gutachten für Abschiebungen anfertigen und insgesamt bereits etwa 50.000 Verwahrbescheinigungen ausgestellt haben.

Rechtsanwalt Lorenz sagte in dem „Fakt“-Bericht: „Wir haben ausgerechnet, dass er zwischen 10 und 30 Millionen Euro eingenommen hat in diesen 20 bis 30 Jahren. Und das ist eine Summe, da würde mancher Chefarzt vielleicht sogar hellhörig werden. Und das bei einem Mann, der keinerlei Qualifikation nachgewiesen hat für das, was er da getan hat.“

Der Fall erscheint dem Anwalt so schwerwiegend zu sein, dass er bereits rechtliche Schritte ankündigte: „Wir werden Strafanzeige gegen Herrn Lerche stellen. In dem Moment, wo er keine Kompetenz hat, ist ihm auch Freiheitsberaubung anzulasten.“