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Politik

Erdoğan zwischen Mythos und Wirklichkeit

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Wenn der türkische Premierminister heute in Berlin zu seinen Anhängern sprechen wird, werden viele ihn als Helden bejubeln. Dabei steht Erdoğan innenpolitisch unter Druck. Die Korruptionsaffäre zieht weiter ihre Kreise. (Foto: zaman)

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Erdogan Anhänger
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Von Bertolt Brecht stammt der Satz: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“. Übertragen auf die Türkei würde das nichts Gutes bedeuten. Denn wenn der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan im Berliner Tempodrom auftritt, um Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen im kommenden Sommer zu machen, dürfte er von seinen versammelten Anhängern wie ein Held verehrt werden.

Tausende – so die allgemeine Erwartung – werden ihm zujubeln, so wie stets in den vergangenen Jahren, wenn Erdoğan in Deutschland zu Besuch war. Sie werden dies tun, weil sie in dem türkischen Premierminister einen Helden sehen, einen Helden, der die Türkische Republik so stark geprägt und verändert hat wie vor ihm nur Staatsgründer Kemal Atatürk. Auch deutsche Zeitungskommentatoren sprechen vom „mächtigsten Premierminister, den die Türkei je hatte“.

Recep Tayyip Erdoğan hat es in den bald elf Jahren seiner Amtszeit geschafft, das schier übermächtige Militär – gemeinsam mit dem ebenfalls „kemalistisch“ geprägten Justizapparat einst Garant für die Bewahrung des nach dem Staatsgründer benannten Systems – in seine Schranken zu verweisen und damit den gewählten Vertretern der Politik zur Vorherrschaft im Lande zu verhelfen. Kein geringes Verdienst angesichts von drei Militärputschen zwischen 1960 und 1980 sowie einem so genannten postmodernen Putsch im Jahr 1997, als der von den Generälen dominierte Nationale Sicherheitsrat die demokratisch gewählte Regierung unter der Führung von Necmettin Erbakan aus dem Amt drängte.

Und doch werden nicht alle in Deutschland lebenden Türkeistämmigen dem Premierminister zujubeln. So hat die Alevitische Gemeinde in Deutschland zu einer „Großkundgebung“ in Berlin aufgerufen und in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel verlangt, die Bundesregierung möge klar Stellung beziehen zum „antidemokratischen und diktatorischen Regierungsstil“ Erdoğans. Und die Kommentatoren beschwören schon „Erdoğans Abstieg“ herauf, welcher der türkischen Gesellschaft „nur guttun“ könne. Was also ist es, das an dem türkischen Premierminister so polarisiert, dass er scheinbar ausschließlich in den hellsten oder in den schwärzesten Farben gemalt werden kann, ohne die sonst üblichen Grautöne?

Erdoğans Aufstieg

Dazu muss man sich zunächst Erdoğans Herkunft und Aufstieg anschauen. Geboren und aufgewachsen ist er im alten Istanbuler Hafenviertel Kasımpaşa, anders als viele türkische Politiker stammt er aus einfachen Verhältnissen, musste sich angeblich auch als Simitverkäufer (beliebtes türkisches Hefeteiggebäck) sein Geld verdienen.

Erdoğan schloss sich früh der islamischen Bewegung von Necmettin Erbakan an und brachte es in den von diesem geführten Parteien – sie wurden regelmäßig vom Militär verboten und unter neuen Namen wiedergegründet – zu hohen Ämtern. In dieser Zeit geriet Erdoğan in Konflikt mit der kemalistischen Justiz, als er in einer Rede den nationalistischen Dichter Ziya Gökalp mit den folgenden Worten zitierte: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Folge war eine Verurteilung zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends soll sich Erdoğan dann von Erbakan gelöst haben. Gemeinsam mit alten Bekannten aus Erbakans Partei gründete der spätere Premierminister nun die AKP, die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ – in der Selbsteinschätzung konservativ-demokratisch und nicht etwa islamisch oder gar islamistisch ausgerichtet. Bis heute jedoch nehmen viele Beobachter Erdoğan dies nicht ab, immer wieder rufen sie das Gökalp-Zitat in Erinnerung und nehmen es als Beleg für ein großangelegtes Täuschungsmanöver. Nur vordergründig gebe Erdoğan den Demokraten, in Wahrheit habe er sein Ziel, die Türkei in einen islamischen Staat zu verwandeln, nie aufgegeben.

Die Zeit als Premierminister

Als Erdoğan im März 2003 zum Premierminister gewählt wurde, standen jedoch zunächst ganz andere Themen auf der Agenda. Westliche Beobachter zeigten sich überrascht und angetan von dem Annäherungsprozess an die EU, der schließlich im Oktober 2005 in Beitrittsverhandlungen mündete. Von einer islamisch geprägten Regierung hatten dies nur wenige erwartet. Allerdings gerieten die Verhandlungen bald ins Stocken, was nicht zuletzt auch daran lag, dass führende europäische Politiker kein Hehl aus ihrer Ablehnung eines türkischen Beitritts machten. Die neue, wesentlich vom heutigen Außenminister Davutoğlu formulierte Politik der „null Probleme“ mit den direkten Nachbarstaaten der Türkei ließ zudem Kritiker Erdoğans mutmaßen, er wolle das Land stärker in den Nahen Osten integrieren und gebe die Westorientierung auf.

Innenpolitisch hatte es Recep Tayyip Erdoğan hingegen mit ganz anderen Problemen zu tun. Die kemalistische Elite in Militär und Justiz versuchte, den ungeliebten Regierungschef aus dem Amt zu treiben. All diese Versuche blieben indes ohne Erfolg, tatsächlich konnte die AKP ihre Mehrheit bei den folgenden Parlamentswahlen ausbauen und halten. Erdoğans Position wurde stärker und stärker, bis er es schließlich wagen konnte, selbst höchste Militärführer vor Gericht stellen zu lassen. Zu seinem zehnten Jahr als Premierminister erschienen Artikel, die es fast schon als sicher erschienen ließen, Erdoğan werde zunächst die Verfassung ändern lassen, um dann im Sommer 2014 selbst für die Wahlen zum dann wesentlich potenteren Amt des Staatspräsidenten anzutreten. Niemand schien dies aufhalten zu können, zumal die türkische Wirtschaft blendende Zahlen vermelden konnte und anscheinend mühelos dabei war, die von Finanz- und Euro-Krise gebeutelten Europäer in den Schatten zu stellen.

Der Wandel zum Sultan

Völlig unerwartet rückten ein paar Bäume, die im Istanbuler Gezi-Park gefällt werden sollten, das ganze strahlende Bild zurecht. Als sich im vergangenen Sommer tausende Bewohner der Metropole am Bosporus den Fällkommandos und dann auch den Wasserwerfern und Knüppeln der Polizei entgegenstellten, wurde deutlich, dass sich das Land gewandelt hatte. Mehr jedenfalls, als sich der Premierminister offenbar vorstellen konnte. Wie Arnold Hottinger, der große alte Mann der deutschsprachigen Türkei- und Nahostberichterstattung schrieb, waren es „Zehntausende von Individuen, die auf die Straße“ gingen. „Sie wissen alle, was sie nicht wollen, nämlich sich nicht von Erdogan kommandieren lassen, wie sie zu leben haben, demokratische Mehrheit hin oder her“, so Hottinger weiter. Erdoğan hingegen habe dies nicht verstanden.

Seine Reaktion habe „ein autoritäres Demokratieverständnis“ deutlich gemacht. Soll heißen: Die Mehrheit kommandiert. Da er bzw. die AKP die Wahlen gewonnen habe, dürfe er auch alleine entscheiden. Sichtbar wurde dies anhand vieler weiterer Beispiele, so etwa, als Erdoğan seine Vorstellungen für einen neuen Großflughafen, einen „zweiten Bosporus“ oder eine riesige Moschee im neo-osmanischen Stil auf dem Camlica-Hügel ohne Bürgerbeteiligung durchdrücken wollte.

Kritiker begannen, Erdoğan als Sultan zu bezeichnen. Zwar konnten die Gezi-Proteste mithilfe massiver Polizeieinsätze niedergeschlagen werden. Zugleich aber hatten sie deutlich gemacht, dass es nicht mehr allein organisierte Gruppen oder Parteien waren, die in der Türkei ein Mitspracherecht einforderten. Die Jungen, die Gebildeten oder einfach auch nur Unzufriedenen hatten im ganzen Land aufbegehrt gegen das autoritäre Auftreten der Staatsmacht. Für viele besonders bemerkenswert dabei: Unter den Protestierern waren auch zahlreiche fromme Muslime zu finden, die sich in den Protestpausen zum öffentlichen Gebet versammelten.

Der Machtkampf

Doch die Gezi-Proteste verblassen in ihrer Wirkung im Vergleich zu dem, was sich seit dem vergangenen Dezember in der Türkei abgespielt hat. Justizbeamte durchsuchten Wohnungen und Büros von hochrangigen Politikern, Beamten und Geschäftsleuten, allesamt der AKP-Führung angehörig oder nahe stehend. Den Verdächtigen wurde Korruption enormen Ausmaßes vorgeworfen. In der Folge mussten mehrere Minister zurücktreten, deren Angehörige in den vergangenen Jahren zu erheblichem Reichtum gekommen waren.

Die Vorwürfe machten auch nicht vor der Familie von Premierminister Erdoğan halt, dessen Sohn ebenfalls auffallend reich geworden war. Schnell standen Vorwürfe im Raum, die eifrigen Justiz- und Polizeibeamten seien Anhänger der Gülen-Bewegung, die sich mit dem Premierminister in einer Fehde befinde. Erdoğan sprach von einer „juristischen und polizeilichen Verschwörung“. Die Verschwörer beabsichtigten, einen Staat im Staat zu etablieren und die gewählte Regierung zu unterminieren. Obwohl die Korruptionsermittlungen noch laufen, ließ die Regierung tausenden Polizisten andere Aufgaben zuweisen. Auch Staatsanwälte wurden von ihren Ermittlungen abgezogen. Kritiker werfen Erdoğan vor, die Gewaltenteilung zu gefährden, er unterlaufe die Unabhängigkeit der Justiz. Noch ist der Ausgang dieses Machtkampfes offen, in dessen Verlauf es offenbar auch zu einer Annäherung der Regierung an ihre einstigen Widersacher aus der Militärführung gekommen ist. Es dürfte also spannend bleiben.

Wahlen und Wirtschaft

Besondere Aufmerksamkeit verdienen nun die im März anstehenden Kommunalwahlen. Vom Ausgang des Kampfs um das Bürgermeisteramt in Istanbul und Ankara erhoffen sich viele Betrachter Fingerzeige für die im Sommer bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Noch scheint Erdoğan gute Chancen zu besitzen. Doch die gegenwärtige Krise der Landeswährung Lira belastet die türkische Wirtschaft schwer. Erdoğans Versuche, die Schuldigen dafür bei einem ominösen Zinskartell im Ausland zu suchen, mögen ihm helfen, die Reihen der Getreuen zu schließen, doch ob er damit die Mehrheit der Wähler hinter sich bringen kann, erscheint fraglich.

Aus Sicht der AKP war Erdoğan bislang ein Garant für Wahlsiege. Doch muss dies nicht so bleiben. So bleibt abzuwarten, wie die Partei reagiert, wenn erst einmal ihre Mehrheit bröckelt. Und gänzlich unkalkulierbar scheint die Frage, was passiert, würden sich die angeblichen oder tatsächlichen Gülen-Anhänger aus der AKP davonmachen und ihre eigene Partei gründen.

Was nun?

Nicht wenig spricht dafür, dass Recep Tayyip Erdoğan, der schon so viele Siege erringen konnte, ein letzter Sieg noch fehlt, der ihm wirklich historische Größe einbringen könnte: der Sieg über sich selbst, der Sieg über das Heldenbild, das er von sich selbst geschaffen hat und das seine Anhänger verehren. Wenn Erdoğan es schafft, seinen persönlichen Ehrgeiz zu zügeln, in den Hintergrund zu treten, anderen das Feld zu überlassen, dann hat die türkische Gesellschaft die Chance, zu einer wirklich demokratischen zu werden, dann kann sich die Türkei zu einem echten Rechtsstaat entwickeln. Wenn Erdoğan jedoch dazu nicht imstande ist – und im Moment scheint mehr für diese Variante zu sprechen – läuft die Türkei Gefahr, alle Fortschritte der vergangenen elf Jahre zu verspielen und in einer neuen Autokratie zu erstarren.

Die italienische Journalistin Franca Magnani hat einmal gesagt: „Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen.“ Noch scheint die Heldenverehrung in der Türkei hoch im Kurs zu stehen. Es wäre dem Land zu wünschen, dass sich dies ändert, dass Bürger mit Zivilcourage die Helden überflüssig machen. Dies aber dürfte ein längerer Prozess werden. Und davon wären nicht nur die Anhänger der AKP betroffen. Auch andere Organisationen und Parteien müssten sich von ihren Führern emanzipieren, müssten aufhören, diese auf einen Sockel zu stellen. Und, wer weiß, vielleicht bliebe am Ende dieses Prozesses auch die größte aller türkischen Heldenfiguren, der allgegenwärtige Staatsgründer Kemal Atatürk, nicht davor verschont, wieder nach menschlichen Maßstäben beurteilt zu werden. Doch bis dahin, so scheint es, ist noch ein langer Weg.

Autoreninfo: Martin Reiner ist freier Journalist und lebt in Berlin.