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Ethik im Kaukasus

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Der Krieg zwischen Georgien und Russland im Jahre 2008 sagt viel über die Interessenspolitik verschiedener Großmächte im Kaukasus aus. Die westliche Berichterstattung ist mit Vorsicht zu genießen. (Foto: ap)

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Ethik im Kaukasus
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Nach Ende des fünftägigen Kaukasuskrieges und kurz vor dem EU-Sondergipfel zu diesem Thema, fassten EU-Diplomaten das angestrebte Ergebnis dieses Gipfels mit den Worten „Rüge für Russland, Geld für Georgien“ zusammen. Und so kam es denn auch. Das über den Umgang mit Russland zerstrittene „alte“ und das „neue“ Europa – wie der inzwischen gegangen gewordene US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld während des Irakkrieges die neuen osteuropäischen EU-Mitglieder lobend genannt hatte – kitteten in ihrer Erklärung vom 1. September 2008 alle Unterschiede zwischen „alt“ und „neu“ zu, um nicht sichtbar werden zu lassen, dass sie keine gemeinsame Russlandstrategie haben. Man verurteilte die russische Anerkennung Südossetiens und Abchasiens, bekannte sich zur territorialen Integrität Georgiens, forderte den russischen Truppenabzug aus dem Land, kritisierte die russische Reaktion auf die Krise in Südossetien als „unverhältnismäßig“ und bot Georgien viel Geld für den Wiederaufbau an.

Man muss sich bei dieser Erklärung und dem dieser Erklärung vorangegangenen Medienkrieg mehrfach verwundert die Augen reiben. Da wird auf einmal von fast allen Medien gebetsmühlenartig vor einer Wiederkehr des „Kalten Krieges“ gewarnt, da fordert der englische Premier Gordon Brown eine „radikale Überprüfung der EU-Beziehungen zu Russland“, andere Politiker wollen Russland aus dem G8-Club ausschließen und wieder andere regen den Boykott der Olympischen Winterspiele 2014 im russischen Sotschi an der Grenze zu Abchasien an. Und nirgendwo fehlt der Angstreflex, man könne den Russen nicht trauen, sie könnten Europa jederzeit den Öl- und Gashahn abdrehen.

Alle diese Argumente und Perspektiven sind mehr als absurd. Sie bedürfen dringend mehrerer Korrekturen, Ein- und Widersprüche.

Da gilt es aus völkerrechtlicher Perspektive zunächst einmal die Kriegsschuldfrage zu klären. Zwar hat Georgien mehrfach öffentlich erklärt, es habe seinen Angriff kurz nach Mitternacht in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 erst begonnen, nachdem sichere Informationen darüber vorgelegen hätten, dass sich russische Truppen auf den Roki-Tunnel (das ist die Grenze zwischen Russland und Südossetien) zubewegen, doch abgesehen davon, dass für diese Informationen bislang nur georgische Quellen genannt werden können, steht fest, dass Georgien erstens diesen Krieg begonnen und zweitens damit bestehendes Völkerrecht verletzt hat.

Das Völkerrecht wurde gebrochen

Zwar gehört Südossetien völkerrechtlich nach wie vor zu Georgien. Doch aus der Zugehörigkeit zu Georgien kann nicht gefolgert werden, dass Georgien berechtigt war, seine Gebietshoheit mit allen nur erdenklichen Mitteln wiederherzustellen. Denn das völkerrechtliche Gewaltverbot gilt nicht nur zwischen Staaten, sondern schützt auch sogenannte lokale De-facto-Regime (Taiwan, Nordzypern, Transnistrien, d. i. der östliche Teil von Moldawien) vor Gewaltanwendung. Ein solches Gewaltverbot gilt erst recht für Georgien, da es dort eine international anerkannte Waffenstillstandslinie gab. Mit dem nächtlichen militärischen Überfall auf Südossetien in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 (unter bewusster Inkaufnahme des Todes schlafender Zivilisten und mit dem Einsatz von geächteten Streubomben) hat Georgien versucht, den territorialen Status quo gewaltsam zu verändern, hat damit also Völkerrecht gebrochen.

Selbstverständlich kann diese georgische Militäraktion nur im Kontext einer politischen Vorgeschichte verstanden werden. Jahrelange Waffenlieferungen durch die USA und Israel und der Einsatz Tausender ausländischer Militärberater (auch aus der Deutschen Bundeswehr) in Georgien verfolgten aus Sicht der USA ganz offensichtlich folgende Ziele: Destabilisierung Russlands, Einbindung Georgiens in die NATO, Spaltung Europas in „gute“ und „schlechte“ Europäer und möglicherweise sogar Hilfe bei der Vorbereitung eines Angriffskrieges auf den Iran. Diese kleine, nur Georgien betreffende Perspektive muss in eine Perspektive der gesamten US-amerikanischen Russlandpolitik eingebunden werden. Da setzen die einseitige US-amerikanische Kündigung des ABM-Vertrages zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen von 2001 und die gegenwärtig geplanten US-amerikanischen Raketenabwehrsysteme in Tschechien und Polen Russland militärisch und politisch derartig unter Druck, dass man sich nur wundern muss, warum es so lange so friedlich zugesehen hat. Wenn der US-amerikanische Vizepräsident Cheney neulich in Lettland erklärte, man wolle Russland „einkreisen“, dann ist die internationale Konfliktverschärfung im Kaukasus eher den USA als Russland vorzuwerfen.

1893 stürzten die USA die Königin von Hawaii, von 1915 bis 1934 hielten sie Haiti militärisch besetzt, 1962 verhinderten sie auf Kuba die Stationierung russischer Raketen, 1983 stürzten sie in einer Militäraktion die Regierung auf der Karibikinsel Grenada, in den 80er Jahren verminten sie die Pazifikhäfen von Nicaragua, 1989 überfielen sie in einer Militärinvasion Panama und entführten den Oberbefehlshaber der panamaischen Nationalgarde Manuel Noriega usw., usw.: Der US-amerikanische Bestseller Overthrow von Stephen Kinzer hat diesen notorisch kriegerischen Imperialismus der USA gerade nochmals nüchtern aufgelistet und seinem Buch den spannenden Untertitel „America’s Century of Regime Change from Hawaii to Iraq“ gegeben.

Zwei Schlussfolgerungen sind zu ziehen. Erstens: Aus verantwortungsethischer Sicht wird man Großmächten leider zugestehen müssen, dass Kleinstaaten in ihrem unmittelbaren Einflussbereich unter einer eingeschränkten Souveränität leben. Allerdings gilt eine solche Verantwortungsethik für alle Großmächte gleichermaßen. Zweitens: Wenn aus gesinnungsethischer Sicht das Völkerrecht für alle Akteure gleichermaßen gültig ist, dann müssten der georgische Staatspräsident und die ihn unterstützenden leitenden Offiziere der georgischen Armee dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag überstellt werden.

Dieser Artikel erschien 2008 in der Zeitschrift „Zukunft“.