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Gesellschaft

„Frauen werden nicht als Individuen gesehen”

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Trotz der verstärkten Bemühungen seitens der türkischen Regierung, wirksame Maßnahmen gegen häusliche Gewalt zu treffen, tritt der erhoffte Effekt bei weitem noch nicht im gewünschten Maße ein. Die Bewusstseinsschärfung steht erst am Anfang. (Foto: iha)

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Häusliche Gewalt: Frau wird von ihrem Mann vor den Augen ihres Kindes geschlagen.
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Obwohl die Türkei bereits seit einigen Jahren verstärkt Maßnahmen ergreift, mittels derer der Gewalt gegen Frauen den Kampf angesagt werden soll, zeigt die jüngste Statistik des Innenministeriums eine immer noch alarmierende Anzahl an Vorfällen dieser Art im Land. Aktivisten möchten diesbezüglich das Bewusstsein schärfen und fordern eine Veränderung der Mentalität, um Vorfälle zu vermeiden, in denen Frauen Opfer von häuslicher Gewalt werden.

Laut der aktuellen Statistik des Innenministeriums wurden 40 000 Frauen in den ersten neun Monaten des Jahres 2013 Opfer häuslicher Gewalt, dabei wurden 105 Frauen ermordet. Im Durchschnitt wird auf diese Weise alle zehn Minuten eine Frau Opfer von Gewalt und 69 Frauen mit insgesamt 50 Kindern mussten ihre Identität aufgrund ihrer Sorge um die eigene Sicherheit verändern.

Mehr als 2000 Frauen wurden in derselben Periode in Krankenhäuser eingeliefert, nachdem sie durch Waffen, Messer oder stumpfe Gegenstände verletzt worden waren.

Damit hat sich trotz der Bemühungen der Regierung in Ankara, effektiv gegenzusteuern, die Anzahl der Vorfälle noch nicht entscheidend verringert. Die Türkei hatte in den letzten Jahren die Problematik bezüglich häuslicher Gewalt gezielt angesprochen, die dadurch mehr an medialer Bedeutung und öffentlicher Beachtung im Lande gewann.

Mehr Fälle oder nur mehr Anzeigen?

Im März 2012 verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz, um Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen. Das neue Gesetz soll nicht nur Schutz für solche Frauen bieten, die Gewalt schon erfahren haben, sondern auch für diejenigen, die mit Gewalt dieser Art bedroht werden. Gerichte können schon im Eilverfahren auf Wunsch des Opfers Maßnahmen treffen. Es wird dabei nicht erst nach Beweisen gesucht, ob das Begehren des Rechtsschutzes berechtigt ist, sondern es reicht eine Glaubhaftmachung. So wird die Maßnahme nicht länger durch eine Beweisaufnahme verzögert.

Jedoch werden Frauen trotz des Schutzgesetzes immer noch Opfer häuslicher Gewalt. Der parlamentarische Ausschuss für Menschenrechte veröffentlichte letztes Jahr einen Bericht, der angab, dass sich die Vorfälle von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen in der Türkei in den letzten vier Jahren verdoppelt hätten – wobei nicht vollständig geklärt werden kann, inwieweit es tatsächlich eine Anstieg der Fälle gab oder nur einen Anstieg der Anzeigen und Rechtsschutzanträge auf Grund der regierungsseitig getroffenen Maßnahmen.

Neue Maßnahmen, wie der Panikknopf, der an Frauen verteilt wurde, die unter dem Risiko der Gewalt von misshandelnden Partnern leben, konnten den quantitativen Anstieg dieser Kennzahlen nicht verhindern.

Aydeniz Tuskan vom Frauenrechtskomitee der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sagte, dass trotz der ergriffenen Maßnahmen im Land, häuslicher Gewalt ein Ende zu setzen, das Faktum der Mentalität der Männer insgesamt und auch in den Sicherheitsbehörden, die die erste Anlaufstelle für Frauen sind, wenn sie Gewalt erlitten haben, keinen entscheidenden Wandel erlebt hätte. Hierdurch bleibe das Problem erhalten.

Sicherheitsbeamte wiegeln zu oft ab

„Frauen werden nicht als Individuen gesehen, sondern nur auf ihre Rolle innerhalb der Familie reduziert. Sie sind gegenüber ihrem Mann darüber rechenschaftspflichtig, was sie anziehen und wohin sie gehen. Es ist also erforderlich, die Vorstellung über die Frau zu verändern. Männer müssen über die Rechte der Frauen aufgeklärt werden und die männliche Wahrnehmung von häuslicher Gewalt muss verbessert werden“, sagte sie der Zaman-Redaktion.

Wenn sich Frauen in der Türkei bei der Polizei oder anderen Sicherheitskräften mit einer Beschwerde über häusliche Gewalt melden, weigern sich die Beamten oft, etwas gegen den Täter zu unternehmen. Es handle sich um familiäre Angelegenheiten, so die Begründung und oft überreden sie die Frau, zurück nach Hause zu kehren und sich mit ihrem Ehemann zu versöhnen.

Tuskan sagte auch, dass sie es grotesk finde, dass für Männer keine Rehabilitation angeboten würde, die dazu gezwungen werden, für einen gewissen Zeitraum das Haus zu verlassen, als Strafmaßnahme infolge häuslicher Gewalt.

„Ich sage nicht, dass diese Männer inhaftiert werden sollen. Sie sollten aber zumindest unter eine Aufsicht kommen. Der Umstand, dass diesen Männern während ihrer Abwesenheit von zu Hause keine Rehabilitation oder kein Training angeboten wird, stellt ein sehr großes Defizit dar“, sagt sie.

Den misshandelnden Partner aus der häuslichen Einrichtung zu entfernen, sei keine Lösung in der Türkei, denn die meisten Männer seien dann noch mehr über ihre weiblichen Partner verärgert, durch die veranlasst wurde, dass sie das Haus verlassen müssen. Sie greifen dann oft zu noch mehr Gewalt.

Der Koordinatorin der Istanbuler Gemeinschaft für Frauenorganisationen (IKKB) und der Vorsitzenden des Türkischen Vereins der Frauenuniversität (TÜKD), Nazan Moroğlu, zufolge gibt es zwei Hauptveränderungen, die vorgenommen werden müssten, um häusliche Gewalt effektiv zu bekämpfen.

Frauenorganisationen schlagen Maßnahmenkatalog vor

Eine dieser Veränderungen betrifft die Mentalität. Deshalb sollen Kurse für männliche und weibliche Gleichberechtigung, Menschenrechte und Kinderrechte an Schulen schon in frühen Bildungsjahren angeboten werden.

„Wenn die Türkei jetzt diesen Schritt macht, dann werden wir die Früchte schon im nächsten Jahrzehnt ernten und eine Generation, die dann bezüglich Gewalt sensibler reagiert, kann heranwachsen“, legt sie nahe.

Die zweite Empfehlung Moroğlus ist es, den erforderlichen juristischen Boden zu bereiten, um diese Implementationen gegen häusliche Gewalt in Kraft zu setzen. So könnten dieser Fallgruppe unmittelbare Maßnahmen zugeordnet werden.

Es gebe zwar Gesetze, diese werden allerdings nicht immer umfassend umgesetzt und seien wenig abschreckend. Beispielsweise sieht das Gesetz vor, für betroffene Frauen Gewalt-, Präventions- und Kontrollzentren (ŞÖNİM) zu schaffen, um ihnen Zuflucht zu bieten und von wo aus alle nötigen Schritte vorgenommen werden sollten, um Gewalt zu verhindern. „Diese Zentren wurden aber noch nicht im ganzen Land errichtet. Es liegt ein großes Chaos vor“, sagte sie.

160 000 Beamte wurden in Bezug auf häusliche Gewalt ausgebildet

Die Zentren, die vom Ministerium für Familien- und Sozialpolitik eröffnet wurden, agieren 24/7. Sie streben an, häusliche Gewalt zu verhindern und effektiv schützende und verhindernde Maßnahmen zu implementieren. Das erste Zentrum wurde in der Region von Bursa als ein Vorzeigemodell eröffnet. Wenn es erfolgreich arbeitet, wird erwartet, dass innerhalb von zwei Jahren die Zentren in allen Regionen errichtet werden.

Diese Zentren werden betroffene Frauen schützen und sie, falls erforderlich, in ŞÖNİM-Zentren anderer Regionen versetzen. Sie werden psychologische Hilfen nicht nur für misshandelte Frauen, sondern auch für misshandelte Kinder, aber auch für Gewalttäter anbieten.

Die Zentren werden auf der Basis des Gesetzes 6284 eröffnet, das zum Schutz der Familie und der Prävention von häuslicher Gewalt dienen soll und im März 2012 in Kraft getreten ist.

Um die Bemühungen zur Bewusstseinsbildung über häusliche Gewalt zu verstärken, bot das Ministerium für Familien- und Sozialpolitik letztes Jahr für 71 000 Polizisten, 65 000 medizinische Fachkräfte, 336 Familienrichter, 17 000 religiöse Beamte und 6500 weitere Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes eine Schulung an.

Auf der Basis einer bereits unterzeichneten Vereinbarung zwischen dem Ministerium und der Gendarmerie werden auch 500 000 Mitglieder des militärischen Sektors im Umgang mit häuslicher Gewalt geschult. Bis zum Jahre 2015 will das Ministerium auch 100 000 Mitarbeitern aus dem Bereich des religiösen Personals durch entsprechende Ausbildungen im entsprechenden Umgang mit der Problematik schulen.

Auch in Deutschland ein Problem

Auch in Deutschland widerfährt zahlreichen Menschen häusliche Gewalt. Laut einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren und Jugend haben 25% der Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren körperliche und sexuelle Gewalt erlebt. Die Ausübung der Gewalt beginnt mit einfachem Wegschubsen bis hin zum Schlagen mit Gegenständen. Jährlich fliehen ca. 45 000 Frauen mit ihren Kindern in ein Frauenhaus.

Neben Frauen sind außerdem immer mehr ältere Menschen von häuslicher Gewalt betroffen. Bundesweit wurden laut Kriminalstatistik im vergangenen Jahr knapp 55 000 Menschen über 60 Jahren Opfer von Straftaten.

Doch auch Männer werden Opfer von häuslicher Gewalt. Eine interessante Gesundheitsstudie des Robert-Koch-Instituts, im Zuge derer 6000 deutsche Erwachsene über ihre Erfahrungen mit Gewalt befragt wurden, zeigte, dass Männer eher Gewalt im öffentlichen Raum und am Arbeitsplatz ausüben würden und Frauen eher im häuslichen Bereich. Allerdings bleibt hier offen, wie ehrlich die Beteiligten antworteten. Auch in der Türkei wurde vor kurzem erstmals ein Männerhaus eröffnet.

Ursachen für die Gewalt sind nicht stets einfache Kontrollverluste, sondern vielfach dient die Gewalt dazu, Macht und Kontrolle über das Opfer auszuüben. Außerdem kann Alkoholisierung des Täters die Gewaltausübung zusätzlich beeinflussen.