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Politik

Hexenjagd mit Vollgas

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Die von Erdoğan angekündigte Hexenjagd gegen die Hizmet-Bewegung nimmt langsam Konturen an. Beweise werden „produziert“, ungeklärte Fälle neu aufgerollt und mit der Bewegung in Verbindung gebracht. Was ist das Ziel der Regierung? (Foto: rtr)

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Armenier-Frage: Vor einem Jahr sprach Erdoğans Regierung den Hinterbliebenen der Ereignisse von 1915 ihr Beileid aus. Nun schlägt Erdoğan neue Töne an.
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MEINUNG Die türkische Tageszeitung Radikal hat Dokumente veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass der Leiter der Abteilung für die Bekämpfung des Terrorismus, die dem Nationalen Polizeipräsidium untersteht, an 30 Provinzpräsidien der Polizei eine „geheime“ Anweisung erteilt hat, festzustellen, ob die Hizmet-Bewegung „eine bewaffnete Gruppe unter der Hand“ habe. Zudem soll der Vermutung nachgegangen werden, ob die Bewegung mit den Attentaten an dem Pfarrer Don Andrea Santoro, dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, auf den Staatsrat, auf den Zirve-Verlag, an Necip Habelmitoğlu und an Üzeyir Garih in Verbindung gebracht werden kann. (Radikal, 6. Juli)

Die Tageszeitung Taraf erscheint hingegen mit dem Aufmacher „Die Hexenjagd dehnt sich nun auch auf unter 18-jährige aus“ und berichtet, dass in derselben „geheimen“ Anweisung gefordert worden ist, Daten von Millionen von Schülern und Studenten zu sammeln und zu speichern, die in den letzten 10 Jahren die Bildungseinrichtungen der Hizmet-Bewegung besucht haben oder in den Wohnheimen der Bewegung gelebt haben sollen. (Taraf, 7. Juli)

Dieselbe Zeitung berichtet zwei Tage später, dass im Nationalen Polizeipräsidium eine „Kosmische Arbeitsgruppe“ gebildet worden ist, die in 81 Provinzen der Türkei Daten über kleinere und größere Unternehmen und ihre Kunden sammelt, von denen angenommen wird, sie stünden der Hizmet-Bewegung nahe. (Taraf, 9. Juli)

Die Zeitungsberichte legen offen, dass auf Befehl des Ministerpräsidenten Erdoğan eine beispiellose Hexenjagd mit dem Ziel eingeleitet wurde, die Hizmet-Bewegung als bewaffnete Gruppe, die sich angeblich zum Ziel gesetzt hat, die Regierung zu stürzen, an den Pranger zu stellen.

Als ich dann noch las, dass Erdoğan bei seiner wöchentlichen Ansprache an die AKP-Fraktion gesagt hat, er werde alle zur Rechenschaft ziehen, die in dieser Frage „schweigen und keine Reaktion zeigen“, wurde mir klar, dass die türkische Politik in einen Weg abgeglitten ist, der mit Verstand und Vernunft nicht mehr zu erklären ist. Sie hat jeglichen Bezug zur Realität verloren. Zu Recht titelte Taraf, dass die Regierung „aus den Fugen geraten“ sei.

Wieso tut die AKP-Regierung das?

Lasst uns für einen Moment das Gerede, die Verleumdungen, die Beleidigungen und die Hasspredigten Erdoğans und seiner Clique beiseite stellen und der Frage nachgehen, wer Fethullah Gülen ist. Er ist jemand, der erklärt, dass Islam mit Demokratie, Menschenrechten und dem Prinzip der Glaubensfreiheit zu vereinbaren ist. Er predigt Respekt und Toleranz gegenüber anderen Lebensarten und Andersgläubigen, verabscheut Gewalt, setzt sich für das friedliche Miteinander von Menschen im eigenen Lande sowie weltweit ein. Er ist ein islamischer Gelehrter, den man sonst nirgends in der weiten islamischen Welt findet.

Wofür setzt sich die Hizmet-Bewegung ein, die von den Ideen und Lehren Gülens inspiriert ist? Für eine Generation, die gebildet und tugendhaft ist und nach moralischen Normen handelt. Sie setzt sich für den Fortschritt des Landes ein, für den internationalen Frieden und bemüht sich, weltweit Brücken zwischen den Völkern zu errichten. Sie ist eine auf dem Glauben basierte Zivilinitiative, die seinesgleichen sucht.

Die Erdoğan-Regierung, die geheime Verhandlungen mit der terroristischen PKK führt, sowie in Syrien und im Irak verschiedenen extremistischen Terrorgruppen den Weg entschieden mitgeebnet hat, versucht nun eine Bewegung als terroristische Vereinigung abzustempeln, die sich in der ganzen Welt mit friedensstiftenden und dialogischen Aktivitäten einen Namen gemacht hat. Wieso tut die Erdoğan-Regierung das?

Größte Korruptionsaffäre in der türkischen Geschichte

Um die Öffentlichkeit von dem Unsinn zu Überzeugen, dass es sich bei der größten Korruptions- und Bestechungsaffäre der türkischen Geschichte, die Erdoğan und seine Familie betrifft, lediglich um ein Komplott der Hizmet-Bewegung handelt. Um das zu erreichen, wird der Rechtsweg auf den Kopf gestellt, eine ganze gesellschaftliche Gruppe wird erst schuldig gesprochen und dann werden Belege produziert, die dies beweisen sollen. Solch einen juristischen Skandal hat es in keiner mehr oder weniger zivilisierten Gesellschaft im 21. Jahrhundert gegeben, geschweige denn in einer Demokratie.

Die Person, die diese Hexenjagd anstiftet, steht nun vor uns, schaut uns in die Augen und erklärt ernsthaft: „Ich habe weder polarisiert noch gespalten. Ich werde der Präsident aller Bürger des Landes sein, da braucht ihr euch keine Sorgen zu machen.“ Doch dieselbe Person sagt auch, dass er die Hexenjagd im Falle seiner Wahl zum Präsidenten weiterführen wird. Zudem will er – auch als Präsident – weiterhin Ministerpräsident und Parteivorsitzender bleiben. Und somit die gültige Verfassung außer Kraft setzten.

Es gibt keinen Grund zum Pessimismus. Die Türkei ist kein primitives Land, das diese ganzen Ungerechtigkeiten und Gesetzwidrigkeiten auf lange Dauer dulden wird. Die Gesetzesverstöße werden früher oder später geahndet.

Şahin Alpay (*1944 in Balıkesir) ist ein türkischer Schriftsteller, Kolumnist und Buchautor. Der Politikwissenschaftler promovierte an der Universität Stockholm in Schweden. Nachdem er für Cumhuriyet, Sabah und Milliyet gearbeitet hatte, schreibt er heute Kolumnen für Zaman.