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Gesellschaft

Mehmet, der Türkenschreck

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Der 1998 mit 14 Jahren in die Türkei abgeschobene „Intensivtäter“ Muhlis Arı hat seine Autobiografie veröffentlicht. Auch wenn viele darin zu Recht klare Worte des Bedauerns vermissen: Der eigentliche Skandal lag in der Ethnisierung der Debatte. (Foto: rtr)

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Muhlis Ari - 1998 mit 14 Jahren in die Türkei abgeschoben
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Am 08.10.2013 erschien das autobiografisch verfasste Buch von Muhlis Arı mit dem Titel: „Sie nannten mich Mehmet – Geschichte eines Ghettokindes”. Es gibt uns einen Einblick in das Versagen unseres Bildungssystems, unserer Sozialpolitik, unserer Jugendpolitik und selbstverständlich in das Versagen seiner Familie.

Muhlis Arı ist im Jahr 1998 der deutschen Öffentlichkeit vorgestellt worden als der Türke „Mehmet”, der von den Sicherheitsbehörden als Intensivstraftäter beschrieben wurde. Noch vor dem Erreichen seines 14. Geburtstags soll er mehr als 60 Diebstähle und Einbrüche, Körperverletzungen, Erpressungen, Nötigungen und Raubüberfälle begangen haben. Im Alter von 14 Jahren wurde er, nachdem er nach Erreichen des Strafmündigkeitsalters straffällig geworden war, in die Türkei abgeschoben.

Die freiheitliche Demokratie wurde dem rechten Populismus geopfert

Es sollen hier in keiner Weise die strafbaren Handlungen und das Verhalten entschuldigt werden, die dem Jugendlichen zur Last gelegt wurden. Es kann aber gleichzeitig nur Unverständnis über das Versagen der Zivilgesellschaft geäußert werden, die tatenlos zusah, als Muhlis Arı dem populistischen Wahlkampf von Günther Beckstein geopfert wurde. Als „Mehmet“ verschaffte er der CSU bei den Landtagswahlen in Bayern 1998 die absolute Mehrheit. Zu seiner Abschiebung fand keine öffentliche Debatte über soziale Ungleichheit, fehlende Chancengleichheit und über ungenügende Jugendbetreuung statt. Die Öffentlichkeit diskutierte nicht, ob die Ausländerpolitik und die Lebensumstände ursächlich für sein deviantes Verhalten sind, sondern konzentrierte sich lediglich auf seine Herkunft, basierend auf den Statements der verantwortlichen Politiker. Die Ausprägungen seiner Sozialisation wurden lediglich ethnisiert, ohne die Hintergründe zu recherchieren, wie man es sonst ganz selbstverständlich bei „biodeutschen” Intensivstraftätern macht. Die Leitmedien bastelten ein 14-jähriges Monster und tauften es „Mehmet”.

„Mehmet” musste einen Zweck erfüllen

Die Leitmedien brauchten eine Kunstfigur, einen Avatar. Dieser wurde personalisiert durch Muhlis Arı. Er gab diesem Avatar ein Gesicht, das man der Öffentlichkeit präsentieren und – frei nach Hagen Rether – an dem man sich empören konnte. Bereits in den Jahren vor der Bundestagswahl 1998 war die mediale Sehnsucht nach einem „Mehmet“ spürbar. Die Themenfelder Asyl und Ausländer dominierten, neben Arbeitslosigkeit und Wirtschaftspolitik, den Wahlkampf. Sie wurden in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Man brauchte, der „Political Correctness“ geschuldet, einen „Mehmet“, den Prototypen des kriminellen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, zur Differenzierung vom „guten Ausländer“: einen Referenzpunkt, um die Erwartungshaltung gegenüber Ausländern, die sich in diesen Jahren zum Besseren änderte, zu formulieren.

„Mehmet, der Türkenschreck” oder „Mehmet, der schreckliche Türke”

Der Duden erklärt das Wort „Avatar“ als „virtuelle Kunstfigur im Cyberspace“. Ein solcher wurde mit „Mehmet“ für die Öffentlichkeit erschaffen. Als „Bogeyman -Gespenst aus dem Schrank“ wurde er in regelmäßigen Abständen der Gesellschaft präsentiert, um Angst zu machen. Den Ausländern sagte „Mehmet” als Türkenschreck: „Benehmt euch, sonst werdet ihr abgeschoben“ und mit „Mehmet, der schreckliche Türke“ wurde mit Wirkung für die Mehrheitsgesellschaft die heute noch herrschende Diskriminierung von Türkischstämmigen gerechtfertigt.

Gute Ausländer versus böse Ausländer

Da die Leitmedien in ihrem Selbstverständnis stets auf der Seite der moralischen Gerechtigkeit stehen, besitzen mutmaßlich nur sie allein die Definitionshoheit über die Kategorien „gute Ausländer” und „böse”. Die ständige Reproduktion ihrer Einteilung machte diese zur gesellschaftlich akzeptierten Normen, die der „biodeutsche” Bürger als Fragen- und Bewertungskatalog übernommen hat. Die Türkifizierung deutscher Problemkinder machte es einfach, die Frage zu verdrängen, ob es nicht auch hausgemachte deutsche Umstände sein könnten, die dazu beitragen, dass manche Jugendliche auf die schiefe Bahn geraten.

Das „Othering“ türkischstämmiger Straftäter durch die Leitmedien ist ursächlich für viele rassistische Vorbehalte, die heute das Zusammenleben erschweren und sich im Zuspruch für fremdenfeindliche Kampagnen wiederfinden. Diese Kunstfigur verfestigt noch immer bestehende Vorurteile und Stereotype in manch „biodeutschen” Köpfen, entstanden durch das Ordnen medial vermittelter Informationen und Eindrücke, im Zuge dessen Ordnungskategorien entwickelt wurden. „Mehmet“ transportierte Bilder in die Köpfe (gesellschaftliche und subjektive), die heute noch das Denken, Fühlen und Handeln vieler „Biodeutscher“ bestimmen. Weite Teile der Mehrheitsbevölkerung bilden sich ihre Meinung zu Fremdstämmigen aus den Medien und übernehmen Zuschreibungen, ohne diese je zu hinterfragen.

„Mehmet“ diente einzig der Vereinfachung eines komplexen Sachverhalts

Das Betonen seiner Herkunft verhinderte eine notwendig-lösungsorientierte Debatte über die Ursachen von Jugendkriminalität in Deutschland. Muhlis Arı sagte im Interview mit Hasnain Kazim für Spiegel Online: „[…] Dabei war ich überhaupt kein Einzelfall, wie immer getan wurde. Es gab und gibt tausende Jugendliche wie mich, leider.“ Muhlis Arı war kein Engel und wurde zu Recht strafrechtlich belangt. Sein deviantes Verhalten war jedoch ein Produkt seiner Sozialisation in Deutschland und nicht das seiner Gene!

Die Abschiebung von unliebsamen Menschen, die man selber produziert hat, entbindet die deutsche Politik nicht von ihrer Verantwortung, auch für die Konsequenzen ihrer miserablen Gesellschaftspolitik geradezustehen. Wie der Gründer des deutschen Reiches Otto von Bismarck vor über 100 Jahren bereits feststellte: „Die Scheu vor der Verantwortung ist eine Krankheit unserer Zeit.“ Zutreffender kann man die deutsche Gesellschaftspolitik der letzten 50 Jahre nicht beschreiben.

Autoreninfo: Mustafa Esmer, Jg. 1976, ist Diplom-Sozialwissenschaftler und Analyst am futureorg Institut. Darüber hinaus ist er als freiberuflicher Journalist tätig.