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Politik

Nicht Werte, sondern Realpolitik bestimmen die deutsch-türkischen Beziehungen

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Am heutigen Mittwoch findet in Berlin eine Expertenrunde statt, die die deutsch-türkischen Beziehungen behandelt. Wir führten mit dem Veranstalter ein Interview.

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Die Flüchtlingsfrage hat wieder einmal gezeigt, wie wichtig die Türkei für Deutschland und Europa ist. Bei der Expertenrunde, die durch den deutschen Ableger der auflagenstärksten türkischen Tageszeitung Zaman in Kooperation mit der HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform organisiert wird, geht es nicht nur um diese Frage, sondern auch um die aktuelle innenpolitische Lage in dem Land am Bosporus nach den letzten Parlamentswahlen.

Wir sprachen mit Dursun Çelik, dem Chefredakteur von Zaman Deutschland, über die Schwerpunkte der diesjährigen Runde, die den Titel „Deutsch-Türkische Beziehungen im 21. Jahrhundert“ trägt.

Worum geht es bei der Veranstaltung „Deutsch-Türkische Beziehungen im 21. Jahrhundert?“

Es handelt sich um eine Expertenrunde, an der aus beiden Ländern Experten aus verschiedenen Bereichen teilnehmen. Sie findet einmal im Jahr statt. Eine wichtige Besonderheit sind die kurzen Impulsreferate, in deren Anschluss alle Teilnehmer ihre Ideen und Eindrücke zur Sprache bringen können. So kann jede Idee aus verschiedenen Perspektiven und sowohl theoretisch als auch praxisbezogen betrachtet werden. Unser Ziel ist es, fernab von den täglichen Diskussionen und Polemiken zusammenzukommen und den Teilnehmern die Möglichkeit zu bieten, ihre Netzwerke auszubauen.

Was ist der diesjährige Schwerpunkt?

In diesem Jahr werden wir uns mit der Frage befassen, ob die AKP nach ihrem klaren Wahlsieg die Beziehungen mit Europa und ihren Reformweg wieder aufnehmen wird oder von der Demokratie abweichen und ein Präsidialsystem etablieren wird. Ein weiteres Thema wird die Flüchtlingsfrage sein. Kann diese zu einer Annäherung zwischen der EU und der Türkei beitragen oder wird sie nur für die Innenpolitik instrumentalisiert? Zudem wollen wir untersuchen, welches Bild die Medien in Deutschland und der Türkei von beiden Ländern zeichnen und wie dieses die Beziehungen beeinflusst.

Wer sind die Referenten, wer die Gäste? Kommen auch Teilnehmer aus der Türkei?

Für die Moderation haben wir zwei namhafte Experten gewinnen können. Da ist einmal Michael Thumann von der ZEIT und dann Udo Steinbach, langjähriger Türkei- und Nahostexperte. Zu unseren Referenten zählen die Justizministerin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, der frühere Europa-Abgeordnete Joost Lagendijk, der jetzt als Kolumnist tätig ist, die Journalistin Canan Topçu und der Vorsitzende der Europäischen Stabilitätsinitiative, Gerald Knaus. Die Eröffnungsrede wird Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen, halten.

Die Zeitung Zaman Deutschland feiert ihr 25-jähriges Jubiläum. Wie sieht ihr Konzept für die kommenden Jahre aus?

In Deutschland spüren wir von Tag zu Tag immer mehr, welchen Wert die Pressefreiheit hat. Wir werden unsere Berichterstattung vor allem im Onlinebereich fortsetzen und den Schwerpunkt auf Deutschland legen. Auch wenn wir Leser aus der Türkei haben, den Großteil machen doch in Deutschland lebende Türken aus. Damit wollen wir unseren Teil dazu beitragen, dass die Menschen hier am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Die Türkei ist als Herkunftsland natürlich weiter wichtig und wird es auch immer sein, aber die Menschen sehen ihre Zukunft hier.

Sie stehen als Medienunternehmen in der Türkei unter Druck. Wirkt sich das auf ihre Arbeit in Deutschland aus?

In der Türkei ist eine Partei an der Macht, die sich zunehmend von der Rechtsstaatlichkeit entfernt, Chefredakteuren wie zuletzt im Fall von Can Dündar von der Tageszeitung Cumhuriyet erst droht und sie dann einsperrt, gekaufte Medien für innenpolitische Ziele einsetzt und Fernsehsender, wie zum Beispiel Samanyolu TV ohne Begründung aus dem Satellitenprogramm verbannt. Diese Regierung stellt für alle, die unabhängigen und freien Journalismus machen wollen, eine Gefahr dar.

Wir sind besonders traurig für die Menschen, die unter schwierigen Bedingungen sich für die Demokratie einsetzen, aber keine ausreichende Unterstützung aus Deutschland bekommen. Alle Werte werden außer Kraft gesetzt mit dem Argument, es gehe um Realpolitik. Ein Paradebeispiel war der Gipfel am Sonntag.

Und natürliche haben die Repressionen auf unser Partner-Medienhaus in der Türkei auch Auswirkungen auf uns hier in Deutschland. Wir haben in den letzten zwei Jahren viele Abonnenten verloren.

Rechnen Sie mit einer Zwangsübernahme ihres Partnerkonzerns in der Türkei durch die AKP-Regierung? Was werden Sie in diesem Fall in Deutschland tun?

Wir sind juristisch und finanziell ein von dem Partnerkonzern in der Türkei unabhängiges Unternehmen, das nach dem deutschen Recht gegründet ist und arbeitet. Wir haben Verträge mit dem Herausgeber der Zaman Türkei, Feza A.Ş. Falls es zur Zwangsübernahme von Zaman in der Türkei kommen sollte, was wir nicht hoffen, werden wir hier in Deutschland mit unseren bescheidenen Möglichkeiten weiterhin die Zaman Deutschland herausgeben.

Wie beurteilen Sei die aktuelle Lage der deutsch-türkischen Beziehungen?

Wir erleben eine Phase, in der die jeweiligen Regierungsspitzen die bilaterale Beziehung nach den temporären Bedürfnissen der Innenpolitik gestalten. Sie nennen es Realpolitik und trösten sich damit, kurzfristigen Profit daraus zu schlagen. Das ist nicht gut und ich befürchte, dass die deutsch- türkischen Beziehungen langfristig darunter leiden werden. In der Zeit, als die AKP der Motor der Demokratisierung war und ernsthaft die EU-Mitgliedschaft anstrebte, hat die Merkel-Regierung dies nicht unterstützt. Jetzt debattiert man darüber, wie man die Beziehungen wieder festigen kann. Die Öffentlichkeit beider Länder beobachtete genau, dass es mit kurzzeitigen gegenseitigen Interessen zu tun hat. Während der Gezi-Proteste hat die mächtigste Politikerin der EU, Frau Merkel, klare Worte gefunden. Heute, wo in der Türkei demokratische Grundrechte, Menschenrechte und die freie Presse mit Füßen getreten werden, sah sie es bei ihrem Türkeibesuch nicht einmal für notwendig an, mit Vertretern der Opposition zusammenzukommen. Solche Schritte schaden vor allem den europäischen Werten.

Die Türkei und die EU haben sich in der Flüchtlingsfrage geeinigt. Wer ist der Gewinner dieses Abkommens?

Das Abkommen hinterlässt ein riesengroßes Fragzeichen. Es sind viele Ungewissheiten vorhanden, auf die derzeit niemand klare Antworten hat.

In der Türkei ist eine Partei an der Macht, die Teile des eigenen Volkes unterdrückt, das Recht der Investoren verletzt und Eigentum beschlagnahmt. Die Europäer sollten sich die Frage stellen, ob man solch einer Regierung vertrauen kann oder nicht. Alle Beteiligten sind damit beschäftigt, sich nur durch den Tag zu retten. Der eigentliche Lösungsort ist Syrien selbst.

Teil der Einigung ist es, dass die Beitrittsverhandlungen zwischen EU und der Türkei beschleunigt werden sollen. Was erwarten Sie von den Beitrittsverhandlungen und glauben Sie, dass sie erfolgreich sein können?

Die Mitgliedschaft der Türkei ist ja verknüpft mit EU-Kriterien, wie z.B. Rechtsstaatlichkeit. Dies sind zugleich allgemeine Werte, die für alle Menschen Gültigkeit haben sollten und nicht nur für die Europäer. Eine tatsächliche Annäherung an Europa wäre durch die Umsetzung dieser Werte gegeben. Die Türkei entfernt sich jedoch zunehmend von diesen Werten. Wieso sollte die EU, die sich zudem scheinheilig verhält, ein Land, welches diese Werte nicht verinnerlicht und zudem ein sehr ernsthaftes Flüchtlingsproblem hat, aufnehmen? Ich sehe in den aktuellen Verhandlungen nichts mehr als Zeitverschwendung.