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Politik

Pogromstimmung gegen Oppositionelle: Vorgeschmack auf die „Neue Türkei“?

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Die Türkei hat eine Nacht der Gewalt erlebt. Zum zweiten Mal wurde die Zentrale der Zeitung Hürriyet angegriffen, landesweit gab es Übergriffe auf HDP- und CHP-Vertretungen. Die Opfer machen auch die Regierung dafür verantwortlich.

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brennendes HDP-Büro in Alanya
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Die aufgeheizte Stimmung in der Türkei spitzt sich weiter zu. In der Nacht zu Mittwoch kam es in mehreren Städten der Türkei zu pogromartigen Ausschreitungen von offenbar aufgestachelten AKP-Anhängern sowohl gegen die regierungskritische Zeitung Hürriyet als auch gegen Vertretungen der pro-kurdischen HDP. Es kam zu erheblichem Sachschaden, laut dem Gouverneursamt von Istanbul gab es jedoch weder Tote noch Verletzte. 93 Menschen seien festgenommen wurden.

In einer Presseerklärung hieß es lediglich, es habe am Dienstag „Demonstrationen gegen terroristische Akte“ gegeben, die „generell vernünftig und problemlos verliefen“. Fast beiläufig schließt sich dieser Satz an: „Allerdings kam es in manchen Bezirken zu Schäden an Parteigebäuden, Presseanstalten und Arbeitsplätzen, während der Ereignisse gab es jedoch keine Toten oder Schwerverletzten.“

Davon, dass ein Mob mit „Allahu akbar“-Rufen in das Hürriyet-Redaktionsgebäude eingedrungen sein soll und die Mitarbeiter der Zeitung, die sich im Gebäude befanden, nur um Haaresbreite den aufgestachelten Randalierern entgingen, war keine Rede. Augenzeugenberichten zufolge soll sie lediglich eine Feuerschutzwand vor dem aufgebrachten Mob geschützt haben. Ob auch dieses Mal wieder ein oder mehrere Abgeordnete der Regierungspartei AKP anwesend waren, ist bisher nicht bekannt.

Bei den Ausschreitungen in der Nacht von Sonntag auf Montag war der AKP-Abgeordnete Abdurrahim Boynukalın als Einpeitscher der Menge in Erscheinung getreten. Stein des Anstoßes war ein von Hürriyet in falschem Kontext benutztes Zitat Erdoğans, für das die Redaktion sich bereits entschuldigt hatte. Die Ausschreitungen von gestern Nacht waren nach Augenzeugenberichten jedoch noch schwerer als die vom Sonntagabend.

Brandanschläge, Steinwürfe, lynchende Mobs

Noch schwerer als die Hürriyet-Redaktion traf es Vertretungen der pro-kurdischen HDP im ganzen Land. In der Touristenhochburg Alanya wurde eine HDP-Vertretung in Brand gesetzt, das Parteigebäude und angrenzende Häuser brannten nieder. Auch die Zentrale der Partei in Ankara wurde Ziel eines Brandanschlags. Im ganzen Land kam es zu Ausschreitungen und Angriffen auf HDP-Vertretungen und Büros von nahestehenden kurdischen Organisationen, die Bilder wecken schlimme Erinnerungen an die zahlreichen Pogrome gegen Kurden, Aleviten, Griechen und andere ethnische, religiöse oder politische Minderheiten, die die Türkei im 20. Jahrhundert heimsuchten.

HDP-Vertretungen wurden unter anderem in Izmir, Konya, Antalya, Mersin, Gaziantep, Çorum, Amasya und Bursa angegriffen. Fast alle wurden mit Steinen beworfen, manche angezündet, Fahnen und Schilder der Partei wurden heruntergerissen. In Antalya und Gaziantep wurden zwei der HDP nahestehende Personen beinahe von der aufgebrachten Menge gelyncht. In Gaziantep wurde das Opfer Hasan T. nur dadurch gerettet, dass die Polizei die Menge mit Schüssen in die Luft auseinandergetrieben hat.

Im Gegensatz der von Staatspräsident Erdoğan versprochenen „Neuen Türkei“ war die letzte Nacht ein Rückfall in alte Zeiten. Erdoğan beschuldigte die MHP, für die Welle der Gewalt verantwortlich zu sein, die wiederum weist die Vorwürfe zurück. MHP-Chef Devlet Bahçeli verurteilte die Anschläge der PKK und die Politik der Regierung scharf, und sagte, man müsse derzeit mit allem rechnen. Das nun wieder bediente „Feindschaftsbild zwischen Türken und Kurden“ sei eine Falle, in die man nicht tappen dürfe.

Mehr als hundert Angriffe auf die HDP an einem einzigen Tag

Laut dem HDP-Provinzverband Istanbul habe es bereits gestern infolge des Anschlags von Dağlıca an einem einzigen Tag 126 Angriffe auf HDP-Büros gegeben. Direkt nach Beginn der Ausschreitungen wurden Mutmaßungen laut, dass die Übergriffe und Brandstiftungen kein spontaner Wutausbruch nationalistischer Türken, sondern gezielt von der AKP-Regierung organisiert gewesen seien. Mindestens eine Mitschuld geben viele der Regierung und Präsident Erdoğan, weil weder er, noch irgendein Regierungsmitglied die gewalttätigen Ausschreitungen verurteilt hat und dadurch die Randalierer in ihrer Auffassung bestärkt worden seien. Sowohl die HDP-Führung als auch Sedat Ergin, der Chefredakteur von Hürriyet, der bei dem Angriff anwesend war, erheben außerdem Anschuldigungen gegen die Polizei, sie sei trotz der Notrufe erst nach geraumer Zeit eingetroffen.

Auch Büros der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP wurden Ziel von Angriffen. Eine Gruppe, die zu den sogenannten „Osmanlı Ocakları“ (in etwa „Osmanen-Verbände“) gehören soll, griff das Gebäude des CHP-Kreisverbands Sincan an. Die „Osmanlı Ocakları“ gelten als Organisation, die der AKP nahesteht und hinter den beiden Übergriffe auf die Hürriyet-Zentrale stecken soll. CHP-Chef Kılıçdaroğlu rief heute Morgen zur Mäßigung auf. „Heute ist die Zeit, der ganzen Welt unsere seit Jahren andauernde Brüderlichkeit zu zeigen. Ich fordere alle Mitbürger auf, mit gesundem Menschenverstand zu handeln“, so der Parteivorsitzende am Mittwoch via Twitter.

Bereits am Dienstag hatte Premierminister Ahmet Davutoğlu appelliert, Ruhe und Maß zu bewahren.