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Kolumnen

Auch für die Zukunft gilt: Nur der Wille des türkischen Volkes zählt

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Im zweiten Teil seiner Analyse widmet sich Kamuran Sezer der Frage, wie angesichts der Stärkung des Regierungschefs bei den Kommunalwahlen sinnvolle und vernünftige Reformarbeit in der Türkei geleistet werden kann. (Foto: zaman)

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Die Wähler sind in eine bewusste Austauschbeziehung mit der Regierung und ihrem Chef eingetreten: die Delegation von Macht durch den Akt der Wahl gegen sicheren Lebensstandard, Lebensqualität und Sicherheit. Das ist die Abmachung. Doch diese Vereinbarung zwischen Regierung und dem Volk dürfte einen gravierenden Nachteil haben. Ismail Kul hat in seinem Beitrag bei ZAMAN die Schattenseiten dieses Wahlausgangs auf den Punkt gebracht: „Ich gratuliere der AKP. Aber ich glaube, dass ausgehend von der hetzerischen Sprache Tayyip Erdoğans die Unruhen weiter zunehmen werden. Meine Befürchtung ist, dass die Muslime in der Türkei die Demokratie als eine ‚Furcht-Demokratie‘ wahrnehmen werden: Wenn man von einem Muslim spricht, wird einem kein ‚sich in Gewissheit wiegender Mensch‘, sondern ein ‚Machiavelli mit Schnurrbart‘ (in Anspielung auf Recep Tayyip Erdoğan) in den Sinn kommen.”

Nach dieser Wahl kann niemand bestreiten, dass Recep Tayyip Erdoğan ein talentierter und ehrgeiziger Wahlkämpfer ist. Ebenso wenig kann aber bestritten werden, dass er seinen Siegeshunger über die Interessen einer stabilen Gesellschaft stellt. Wahlen sind, wie überall auf der Welt, zunächst Mittel zum Zweck. In Demokratien ist allerdings damit ein Wertekanon verbunden, die die politische Führungsetage zur Verantwortung verpflichtet. Dazu zählt, dass der Sieger Bereitschaft zeigt, Verantwortung auch für jene zu übernehmen, die ihn nicht gewählt haben.

So gehört es zum Repertoire jedes Bundeskanzlers bzw. jeder Bundeskanzlerin nach der Wahl im Bundestag, in der Antrittsrede deutlich zu betonen, dass man der Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin aller Deutschen im Lande ist. Seit die Integrationsdebatte in der Politik auf fruchtbaren Boden fällt, betont Angela Merkel, dass sie die Bundeskanzlerin aller Menschen in Deutschland ist. (Daher akzeptieren auch wir sie immer mehr als unsere Bundeskanzlerin.)

In den USA, ein anderes Beispiel, spricht der Verlierer der Präsidentschaftswahlen an seine Anhänger und verkündet zum einen seine Niederlage. Zum andere bekundet er seine Loyalität gegenüber dem Gewinner, dem neuen oder alten Präsidenten der USA, und fordert seine Anhänger auf, für die USA zu stehen, indem sie dem Präsidenten treu sind. Aber was macht Recep Tayyip Erdoğan? Er rüstet auf, droht und bläst zum Angriff. Nein, Erdoğan ist wahrlich kein Demokrat.

Hizmet-Netzwerk als einzige Hoffnung auf Veränderung

Die historische Leistung Recep Tayyip Erdoğans besteht darin, dass er die Türkei aus den Fängen eines autoritären Staats befreit hat. Seine Geradlinigkeit, Durchsetzungskraft und Aggressivität sowie sein unbändiger Wille, seine Macht zu maximieren, waren sogar Voraussetzung für diesen Erfolg. Dieselben Eigenschaften führen die Türkei nun jedoch in Richtung eines anderen autoritären Staats. Und es gibt kein Korrektiv bei diesem Vorgang.

Die Opposition im Parlament ist schwach und unfähig. Die Opposition auf der Straße ist durch die Gezi-Park-Proteste völlig lahmgelegt. Teile der Medienlandschaft gehören Erdoğan oder sind vom Willen der Regierung abhängig. Abgesehen von den zahlreichen Journalisten, die in den Gefängnissen sitzen. Die wenigen ernstzunehmenden kritischen und freien Medien gehören überwiegend der Hizmet-Bewegung an. Das Netzwerk dieser Bewegung unterstützte die AKP und hatte in der Vergangenheit  eine korrigierende und gestaltende Wirkung auf ihre Politik.

Nach dem politischen Machtkampf ist ihr Einfluss in der Partei geschwächt, zumal
viele Mitglieder aus der AKP ausgetreten sind. Damit gibt es keine innerparteiliche Opposition in der AKP – und wenn, wird sie im besten Fall zögerlich handeln. Zu Recht fragt daher der Türkei-Korrespondent der ARD, Reinhard Baumgarten: „Wer kann dem zu autokratischen Alleingängen neigenden Regierungschef nach diesem Plazet des Wahlvolkes noch entgegentreten?”

Einige stellen vor diesem Hintergrund die Gleichung: Ein starker Führer ist gleich ein starker Staat!

Nun lehrt die Geschichte uns, dass diese Gleichung nicht funktioniert. In manchen Fällen führt sie sogar zu Staatsversagen und menschlichen Katastrophen. Denn die Konzentration von Macht auf eine Person vermindert die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft. Um dieser Destabilisierung entgegenzuwirken, führt zu einer Spirale aus politischer Manipulation, Missbrauch des staatlichen Gewaltmonopols und Einschränkung von Freiheiten. Und die vergangenen zehn Monate haben diesen Vorgang eindrucksvoll demonstriert und geben uns womöglich einen Vorgeschmack auf die nahe Zukunft.

Der Erdogan-Hype erfasst in der Türkei auch schon die ganz Kleinen.

Den Mundtoten eine Stimme geben, um Extremismus zu vermeiden

Und es wird diese Destabilisierungen geben. Das ist sicher. Denn dem Willen von Menschen, sich ausdrücken zu wollen, an der Gesellschaft teilhaben zu wollen und sie mitgestalten zu wollen, kann keine Macht der Welt unterbinden – auch nicht der mächtigste Mann im Staat. Insofern stimme ich der Einschätzung von Udo Steinbach (HUMBOLDT-VIADRINA-School in Berlin) zu, wenn er prognostiziert: „Diese Spannung wird verstärkt durch soziale Proteste ausgetragen werden, weil es keine politische Opposition im Land gibt, welche die westlich orientierten Kräfte repräsentiert. Je stärker Erdogan seinen konservativ islamischen Kurs mit dem traditionellen Rollenbild der Frau, dem Verbot von Alkohol, dem Sperren von Internetseiten verfolgt, desto mehr treibt er das Land in die Polarisierung. Und die kann zu einer Destabilisierung und Stärkung der extremistischen Kräfte führen.”

Da Recep Tayyip Erdoğan nach den Gezi-Park-Protesten nicht den Weg der Versöhnung gegangen ist, schlimmer noch: neue Gräben in der Gesellschaft brachial aufgerissen hat, und in seiner kürzlich vorgetragenen Balkonrede seinen Gegnern gedroht hat, ist davon auszugehen, dass er seine harte, zutiefst undemokratische und autoritäre Haltung beibehalten wird. Daraus ergibt sich eine absehbare Konsequenz: Der Kampf geht weiter.

Denn wie Ihsan Yilmaz im Deutsch-Türkischen Journal auf den Punkt gebracht hat, „verlief [das Rennen] zwischen Erdoğans Ehrgeiz, als alleiniger, unbestrittener Führer am Ruder zu bleiben, und der demokratischen Mission der Türkei“. Ich möchte ergänzen, dass das Rennen noch läuft.

Was zu tun ist

Denn die Kommunalwahlen waren nur die erste von insgesamt drei Etappen in diesem Rennen, die die politische Zukunft der Türkei bestimmen werden. Im August stehen die Präsidentschaftswahlen und 2015 die Parlamentswahlen an, die aller Wahrscheinlichkeit nach den Showdown dieses Rennens bilden werden. Dabei nimmt die Hizmet-Bewegung eine Schlüsselrolle ein.

Denn nur sie verfügt über das intellektuelle Kapital, die Infrastrukturen und das internationale Netzwerk, um eine solche Auseinandersetzung führen zu können. Dabei müssen folgende acht Bedingungen erfüllt werden:

1. Sie muss eine Transparenz- und Charmeoffensive starten, um dem Vorwurf einer undurchsichtigen, pyramidenförmigen Organisation zu widerlegen.

2. Die Kommunalwahlen haben vorgeführt, dass auch in einem muslimischen Land „erst das Fressen, dann die Moral” kommt. Daher muss sie pragmatischer argumentieren als bisher. Pragmatismus ist eine Schlüsselkompetenz. 

3. Sie muss sich programmatisch öffnen und so neuen Kräften Anschluss in der Auseinandersetzung bieten.

4. Hizmet sollte einen stärkeren politischen Gestalltungswillen zeigen – so könnte sie den Anstoß zur Gründung einer neuen Partei geben -, sich aber auch in der Gestalt zivilgesellschaftlicher Akteure formieren.

5. Sie muss die neuen Medien verstärkt nutzen, um ihre mediale Reichweite zu erhöhen.

6. Sie muss ihr global verteiltes intellektuelles Kapital konzentrieren.

7. Westliche Staaten dürfen sich nicht einmischen. Nur der Wille des türkischen Volkes zählt. Und wenn es in 18 Monaten Erdoğan und die AKP wählt, dann muss dieser Wille respektiert werden.

Diese Empfehlungen müssen nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland umgesetzt werden. Denn die Diaspora eines Landes kann ein Leuchtturm sein, der der Bevölkerung im Herkunftsland Orientierung bieten und Mut geben kann. Ein solcher Leuchtturm war im Übrigen die Freiheitsstatue in New York, die den Vereinigten Staaten anlässlich des Unabhängigkeitskriegs vom französischen Volk geschenkt wurde.

Die Freiheitsstatue hatte jedoch zur gleichen Zeit die Aufgabe, den Freiheitssinn der Vereinigten Staaten zu zelebrieren und damit auch die Sehnsucht des französischen Volkes zu stärken, sich gegen die Unfreiheit im eigenen Land zu widersetzen. Daraus leitet sich die achte Empfehlung ab:

8. Die Hizmet-Bewegung muss in jedem Land ein Leuchtturm für Freiheit und Demokratie sein, in dem sie vertreten ist. Denn die größte Furcht der türkischen Regierung und Recep Tayyip Erdoğans dürfte weniger der Hizmet Bewegung im eigenen Land gelten. 

Lesen Sie hier Teil 1 (08.04.14) der Wahlanalyse von Kamuran Sezer.