Connect with us

Politik

Türkei: „Tiefe Strukturen werden sich neu organisieren”

Spread the love

Überwiegend positiv waren die Reaktionen zahlreicher Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zum erstinstanzlichen Urteil im Ergenekon-Prozess. Einige warnen jedoch vor einer möglichen Reorganisation der Gruppe in anderer Form.

Published

on

Türkei: „Tiefe Strukturen werden sich neu organisieren”
Spread the love

Juristen haben das erstinstanzliche Urteil im Ergenekon-Prozess als wichtig angesehen im Sinne einer Aufarbeitung der Putschversuche. Reşat Petek, pensionierter Generalstaatsanwalt der Republik, sagte, dass erstmals das autoritäre Regime derer, welche „sich selbst als Wirt, und die politischen Kräfte als Gast” angesehen hätten, vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen würde. Einige Beobachter und Persönlichkeiten meinten, das Urteil des 13. Strafgerichtshofs Istanbul könne nur ein erster Schritt sein und es wären noch lange nicht alle Strukturen der Ergenekon-Organisation offengelegt worden.

Die Opposition hingegen sprach von einem politisch instrumentalisierten Prozess und von einem illegitimen „Sondergericht“. Andere regen eine Generalamnestie an, die auch die PKK betreffen soll.

Hier einige Stimmen zum Urteil:

Ahmet Gündel, ehemaliger Staatsanwalt am Obersten Gerichtshof:

„Im Hinblick auf die Demokratisierung der Türkei war dies ein äußerst wichtiger Tag. Das Gericht entschied der Beweislage entsprechend. Diejenigen, die innerhalb der türkischen Streitkräfte von der öffentlichen Macht profitierten oder diese Macht missbrauchten, werden jetzt mit dem konfrontiert, was sie getan haben. Für die Türkei war dies eine wichtige Erfahrung. Ich hoffe, dass das Urteil gut für das Land wird. Wenn das Gericht zu Unrecht frei- oder schuldig gesprochen haben sollte, wird natürlich das Oberste Gerichtshof entsprechend reagieren.“

Emre Uslu, Kolumnist der Zeitung Taraf:

„Mehr noch als die Strafen ist es wichtig, dass das Gericht Ergenekon als eine Terrororganisation anerkennt. Mit den Entscheidungen wurde nun die Organisation zur Rechenschaft gezogen und ihre Aktionen entsprechend interpretiert. Doch ist es mit dem Ergenekon-Fall nun zu Ende? Nein, es ist definitiv nicht vorbei. Ergenekon hat sich umstrukturiert und führt ihre Aktivitäten fort. Das ist meine Auffassung. Auch nach diesem Urteil wird sie sich eine neue Struktur zulegen.“

Reşat Petek, pensionierter Generalstaatsanwalt der Republik:

„Das Urteil im Fall des Jahrhunderts war mit seinem rechtlichen Aspekt nicht überraschend. Diejenigen, die das Rechtssystem, die politische Macht unter ihrer eigenen Führung als ihr Eigentum angesehen haben, werden das erste Mal ernsthaft zur Rechenschaft gezogen. Bezüglich der Demokratisierung sowie der Gewährleistung und Verankerung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei ist dies ein Prozess, der zu hundert Prozent in die richtige Richtung wirkt. In der Türkei muss die Demokratie von der Unmündigkeit befreit werden. Die Ergenekon-Verurteilung ist nun zu einem Prozess geworden, der beweist, dass solche Versuche in einem demokratischen Rechtsstaat keinen Platz haben.“

Oral Çalışlar, Journalist:

„Da Ergenekon als eine im Inneren des Staates, rechtswidrige Struktur angesehen wird, ist für die grundlegende Lösung dieses Problems eine noch ernstere Demokratisierung nötig. Es sind immer noch keine Maßnahmen, welche die Rolle des Militärs in der Politik vollständig beseitigen, gesetzlich vorgeschrieben. Es ist immer noch keine demokratische Verfassung anstelle der Verfassung vom 12. September eingeführt worden. In solch einer Umgebung an die völlige Beseitigung der Organisationen, welche wie die Ergenekon, eine militärische Bevormundung beabsichtigen, zu glauben, wäre unrealistisch.“

Ümit Kardaş, pensionierter Militärrichter:

„Es ist nicht möglich, nur auf das rechtliche Verfahren zu achten und es zu beurteilen. Dieser Prozess hat auch Aspekte, welche die Politikwissenschaften und Politikgeschichte betreffen. Der gerichtliche Aufarbeitungsprozess wird fortgesetzt. Dieser Fall hat gezeigt, dass man der Justiz vertrauen muss.“

Veysi Savaş, pensionierter Militärrichter:

„Für die Zukunft der Türkei ist das Urteil ein Wendepunkt. Wichtig hierbei ist, dass keine Hoffnung mehr auf tiefe Strukturierungen im Land oder auf einen Sturz der Regierung durch solche bestehen oder man sich dies nicht mehr getraut. Wenn man die Entscheidung näher betrachtet, ist dies in Bezug auf die Strafen zu erkennen. Es wurde ein Urteil gefällt, das nun den Mut potenzieller Putschisten brechen und sie nochmals zum Nachdenken bringen wird. Allerdings finde ich in Bezug auf die Entschlüsselung und Enthüllung dieser Struktur diese Untersuchung und Verfolgung nicht ausreichend. Nach 20 Jahren wird die Geschichte folgendes sagen: Solch einen Durchbruch konnten sie erreichen, doch von der Struktur völlig befreien konnten sie sich nicht. Es wäre besser, wenn diese Untersuchungen erweitert würden und die anderen Personen auch an das Tageslicht kommen. Doch allein das Erreichte führt potenzielle Putschisten dazu, dass sie sich ihre Handlung noch mal überlegen werden.“

İbrahim Güçlü, kurdischer Politiker:

„Die Strafe für die Zerstörung einer Regierung in der Türkei lautet üblicherweise Hinrichtung. Es ist erfreulich, dass zwangsläufig aus demokratiepolitischen Gründen die Todesstrafe fehlt. Aus diesem Grund sind die verhängten Strafen völlig nachvollziehbar. Dass für Putschversuche bestimmte Strafen vorgesehen sind, muss man als vernünftig ansehen.“

Süleyman Demirel, neunter Präsident der Republik Türkei:

„Über diese Entscheidungen wird noch lange gesprochen werden. Die Justiz ist eines der wichtigsten Themen der Türkei. Darüber wird in Zukunft lange diskutiert werden. Niemand kann in der Türkei zu Unrecht verurteilt werden. Ich hoffe, dass wir in der Zukunft noch bessere Tage erleben und jeder davon überzeugt wird, dass die Türkei ein lebenswertes Land ist. Positive Entwicklungen begrüße ich immer mit großer Freude. Mehmet Haberal (Universitätsprofessor aus Ankara, der im Zuge der Ermittlungen verhaftet wurde – Anm.d.Red.) wurde jedoch eine große Ungerechtigkeit angetan.“

Kemal Kılıçdaroğlu, Oppositionsführer (CHP):

„Urteile von Sondergerichten sind illegitim. In Demokratien werden Menschen nicht in von der politischen Autorität abhängigen Sondergerichten, sondern von unabhängigen, von der Rechtsstaatlichkeit überzeugten, normalen Gerichten verurteilt. Daher sind die Entscheidungen der speziell zuständigen Gerichte rechtlich, politisch und moralisch gesehen nicht legitim. Diese Gerichte sorgen nicht für Gerechtigkeit. Diese Gerichte befinden sich unter dem Befehl der politischen Macht und erfüllen deren Gebote.“

Egemen Bağış, Minister für die Beziehungen zur Europäischen Union:

„Die Existenz der Ergenekon-Organisation wurde festgestellt. Wir wissen jetzt um die Existenz einer Organisation unter dem Namen Ergenekon und die Tatsache, dass diese Organisation zum Sturz der legitimen Regierung einen Putsch geplant hat. Nun wollen wir diejenigen sehen, die das gerechtfertigt haben.”

Bahattin Yücel, ehemaliger Minister:

„Der Weg des Amnestiegesetzes, welches auch Öcalan betrifft, wurde geöffnet. Auch wenn Başbuğ mit der Begründung, Führer einer bewaffneten terroristischen Organisation gewesen zu sein, eine lebenslange Haftstrafe erhielt, fangen die Diskussionen darüber erst an, ob nun auch die türkischen Streitkräfte eine Terrororganisation wären. Die Verurteilungen im Balyoz- und Ergenekon-Fall werden ab heute den Weg für eine allgemeine Amnestie, welche auch die PKK und Öcalan betreffen wird, frei machen.”

Oktay Vural, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der MHP:

„Die Entscheidungen sollten sich sowohl dem Gewissen der Nation als auch der Gerechtigkeit anpassen. Das ist es, was wir suchen. Wir sind auf der Suche nach dem Recht und der Wahrheit. Doch an di
esem Punkt wurden diese Prozesse von der AKP-Regierung als ein politisches Marketing-Instrument eingesetzt und auch als ein Mittel zur Unterdrückung der sozialen Opposition angewendet.”