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Politik

Unschuldsvermutung ja, Unantastbarkeit nein!

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Das Recht auf ein gerechtes Verfahren, was sich unter den unverzichtbaren Voraussetzungen eines Rechtsstaates befindet, kennt bestimmte unveräußerliche Grundprinzipien. Zu diesen gehört auch die Unschuldsvermutung. (Foto: cihan)

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Unschuldsvermutung ja, Unantastbarkeit nein!
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Diejenigen, die entweder selbst durch persönliche Verurteilung oder durch die gerichtliche Verfolgung naher Verwandter die real existierende Praxis der Gerichtsbarkeit erfahren haben, kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu der Schlussfolgerung, dass nicht wenige Beteiligte an der Strafverfolgung es mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung bei den meisten Verfahren nicht immer allzu genau nehmen. In der Türkei ist das nicht viel anders und vielleicht ist das sogar das wichtigste Problem der türkischen Justiz.

Doch das Schlimmste an der Sache ist, dass nicht nur unter den Gerichtsbehörden, sondern auch in der Gesellschaft eine Art der Wahrnehmung verbreitet ist, welche die Unschuldsvermutung missachtet. Wenn gegen jemanden ermittelt oder Anklage erhoben wird, geht jeder davon aus, dass schon „irgendwas dran sein“ würde, der Betreffende schuldig ist und es erscheint bisweilen, als müsse nicht das Gericht die Schuld des Angeklagten beweisen, sondern dieser selbst seine Unschuld. Aussagen wie „Lass dich zunächst einmal freisprechen“, widerspiegeln diese Auffassung. Die gesellschaftliche Stigmatisierungswirkung tritt selbst dann oft genug ein, wenn am Ende wirklich ein Freispruch erfolgen sollte.

Bis vor kurzem ging ich davon aus, dass der saloppe Umgang mit der Unschuldsvermutung eher ein Problem der Türkei sei. Doch habe ich mich geirrt. Michael G. Roskin hat (mit einigen Freunden zusammen) das Lehrbuch „An Introduction to Political Science“ (Eine Einführung in die Politikwissenschaft) verfasst, in dem er die Justizsysteme mehrerer Staaten und Rechtsbereiche analysiert. Die Informationen in seinem Buch und das Ergebnis der Analysen haben mich fast schockiert. Laut Roskin wird das Prinzip der Unschuldsvermutung im eigentlichen Sinne nur in den USA, wo das Common Law (Gewohnheitsrecht) angewendet wird, rigide gehandhabt. In Europa, wo das Kodifikationssystem angewendet wird, sind zur Umsetzung dieses Prinzips überhaupt keine näheren Ausführungsbestimmungen zu finden. Von Menschen, die in Europa durch die Staatsanwaltschaft angeklagt werden, wird faktisch wie selbstverständlich erwartet, dass sie ihre Unschuld nachweisen, als ob die rechtskräftige Anklage sie automatisch zu Schuldigen machen würde. Dies ist eine Situation, wie sie ein durchschnittlicher Amerikaner nicht nachvollziehen könnte und wie sie in den Staaten befürchtet wird.

Generelles europäisches Rechtsstaatlichkeitsdefizit

Im Gegenteil zu der Situation in Amerika werden die Fälle in Europa primär von Richtern und Staatsanwälten vorangetrieben – die Verteidigung wird immer im Hintergrund gelassen und passiv gehalten. Aus diesem Grund entsteht aus den Gerichtsfällen in Europa kein Material für TV-Serien – anders als es in den USA der Fall ist. Auch wenn Roskins Feststellungen für die Bürger der Republik Türkei den schwachen Trost spenden mögen, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine sind, müssen sie ihre Hoffnung auf eine Justiz, in der die Unschuldsvermutung dominiert, aufgeben.

Abgesehen davon, dass es im Regelfall eher ein Problem der Nichtanerkennung der Unschuldsvermutung gibt, ist in anderen Fällen zu erkennen, dass wiederum versucht, die Unschuldsvermutung in eine Vermutung der Unantastbarkeit umzuwandeln. In den Strafverfahren zum Schutz der Demokratie, wie Ergenekon und Balyoz, sieht es aus, als ob genau diese Situation vorherrschen würde. Die Anwälte und Angehörigen der Angeklagten behaupten mit Begründungen, welche im Gesetz keine Grundlage finden, dass die Angeklagten die ihnen zur Last gelegten Taten gar nicht begehen hätten können oder diese gar keine Straftaten wären, nicht zuletzt, da Menschen mit solchem Charakter solche Straftaten gar nicht erst begehen könnten. Insofern ist dieser Ansatz sozusagen eine übelwollende Karikatur der Unschuldsvermutung.

Nach dem Grundsatz der Unschuldsvermutung muss bewiesen werden, dass der Angeklagte zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten an den Tag gelegt hat – das ist die Essenz des Beweises für das Verbrechen –, jedoch nicht, dass sein ganzes Leben falsch gewesen wäre. Das wäre sowieso ebenso unmöglich wie unnötig. Die Tatsache, dass sich jemand sein ganzes Leben lang an der richtigen Stelle befunden hatte und im Einklang mit dem Gesetz gelebt hatte, hebt die Wahrscheinlichkeit nicht auf, dass er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auch an der falschen Stelle befunden haben könnte. Wenn der Aufenthalt des Betreffenden in einem bestimmten Moment an einem falschen Ort bewiesen werden kann, ist derjenige – auch wenn er der Rest seines Lebens „blitzblank“ war – schuldig. Zweifellos könnten gerade solche Konstellation – verglichen mit chronischen Straftätern, deren ganzes Leben auf falschen Haltungen aufgebaut war – der Grund dafür sein, warum solchen Menschen gegenüber Sympathie empfunden wird, was jedoch nicht bedeutet, dass dies die Wahrscheinlichkeit hinsichtlich einer strafrechtlich relevanten Schuldprognose aufhebt. Unschuldsvermutung heißt: Niemand kann, bis seine Schuld bewiesen wird, als schuldig gelten. Allerdings kann ebenso wenig gesagt werden, unabhängig von seiner Position, Autorität und Tätigkeit, dass jemand niemals ein Verbrechen begehen könnte und deshalb von vornherein von jedweder strafrechtlicher Verfolgung freigezeichnet werden sollte.

Aggression statt Verteidigung

Die Angehörigen, Anwälte und Anhänger der Ergenekon-Angeklagten offenbaren an dieser Stelle ein hohes Maß an Konfusion. Sie verhalten sich so, als wüssten sie nicht, wie das Gesetz funktioniert. Sie gehen davon aus, dass die Position eines Generals oder Professors, eines berühmten Journalisten als solche bereits durch Beweise untermauerte Vorwürfe der Beteiligung an einer illegalen Operation widerlegen würde. Aus diesem Grund wählen sie anstelle einer Verteidigung im technischen Sinne einen ideologischen Kampf inklusive Verleumdungen und Bedrohungen als Verteidigungstaktik. Sie behaupten, dass sie nicht wüssten, welcher strafbarer Handlungen die Angeklagten überhaupt beschuldigt werden – frei nach dem Motto: „Wie könnte jemand, der in eine solche Position gelangt ist, ein Verbrechen begehen?“

Sie versuchen, zu erreichen, dass die Anschuldigungen gegen einzelne kriminelle Elemente, die innerhalb der Armee eine Art „Staat im Staate“ gegründet hatten, als Anschuldigungen gegen die TSK (die türkischen Streitkräfte) insgesamt und allfällige Verurteilungen ebenfalls als Verurteilungen der TSK insgesamt wahrgenommen werden. Damit die Familienangehörige der Angeklagten während der Prozesse nicht benachteiligt werden, wurden routinemäßig alle Hinweise auf die Identität der Familienmitglieder aus den Akten entfernt – dies wird nun als „Aberkennung der Vaterschaft“ dargestellt. In noch extremeren Fällen werden Richter und Staatsanwälte in aller Öffentlichkeit bedroht und gewalttätige Rollkommandos fallen in Silivri ein, um Botschaften wie „Das Gericht zerstören!“ oder „Schlagt die Wände ein!“ von sich zu geben. Sie drohen offen Gewalt an und geben damit ihr Bestes, um das Funktionieren der Justiz zu verhindern.

Die Erwartung, dass im Zuge des bisherigen Ergenekon-Verfahrens keine praktischen oder technischen Fehler begangen worden wären, ist nicht realistisch. Von besonderem Interesse wäre hierbei eine Erhebung dahingehend, ob sich die Fehler und Irrtümer auf normwidrige Weise über dem langjährigen türkischen Durchschnitt befinden oder nicht. Ein unparteiischer Beobachter könnte in einer vergleichenden Untersuchung zum Schluss kommen, dass sich die tatsächlich nachweisbaren Verfahrensfehler in gewisser Hinsicht über dem Durchschnitt der Türkei befinden oder auch nicht. In Bezug auf die Publizität der Verurteilung, hinsichtlich der Tatsache, dass die Angeklagten nicht misshandelt werden, mit Blick auf die Qualität der Beweise und wie die Angeklagten diese zur Kenntnis nehmen konnten und mit Blick auf die Verfahrensdauer bis zu einem Urteil kann die Situation in die eine oder andere Richtung interpretiert werden. Dennoch hoffe ich, dass die möglichen Fehler im Mindestmaß bleiben werden, den Durchschnitt der Türkei nicht überschreiten und allenfalls vom Obersten Gerichtshof entsprechend geahndet werden.

Putschistenprozesse als Lehrmeister der Rechtsstaatlichkeit

Wie auch immer das Ergebnis aussehen wird: Die Verfahren erfüllen den wichtigen Zweck, dem durchschnittlichen Bürgern zu zeigen, dass unabhängig von Position und Status, jeder zum Erscheinen vor einem Gericht gezwungen werden kann, niemand von einer strafrechtlichen Verfolgung ausgenommen ist und damit die Herrschaft des Rechts gestärkt wird. Sie stärken die Hoffnung, dass sowohl Führer als auch Geführte – insbesondere jene uniformierten Beamten, die über Jahrzehnte hinweg nicht verurteilt werden konnten, beinahe einen Status über dem Gesetz erlangt hatten und deshalb meinten, sich so dreist außerhalb des Rechtsstaats und der Demokratie bewegen zu können – von nun an den gleichen Vorschriften des Gesetzes unterliegen. Außerdem verwandeln sie die chronische Krankheit der türkischen Demokratie, die Putschversuche, in beschämende Verbrechen, womit die möglichen Folgekosten eines Putschversuches erhöht werden und die Demokratie Stärkung erfährt.

Autoreninfo: Atilla Yayla (Jg. 1957) ist Politikwissenschaftler und Akademiker. Er war an der Gründung der „Liberal Düşünce Topluluğu“(Gemeinschaft liberaler Gedanken) beteiligt und schreibt regelmäßig für „Yeni Şafak“ und „Zaman“.