Bildung & Forschung
Deutsch-Türkischer Bildungsaustausch: Politik wirkt sich aus
Lange war die Türkei wichtiges Gastland für Schüler, Studenten und Akademiker aus Deutschland. Inzwischen ist das Interesse am Bildungsaustausch rapide zurückgegangen. Und es wird sogar schwierig, Gastfamilien für türkische Teenager in Deutschland zu finden.
Lange war die Türkei wichtiges Gastland für Schüler, Studenten und Akademiker aus Deutschland. Inzwischen ist das Interesse am Bildungsaustausch rapide zurückgegangen. Und es wird sogar schwierig, Gastfamilien für türkische Teenager in Deutschland zu finden.
Von Ulrike von Leszczynski, dpa
Wenn Laura Somann an die Türkei denkt, hat sie ein ungewohntes Gefühl von Zerrissenheit. Vor sechs Jahren ging die Germanistin als Austauschstudentin nach Ankara und lernte Türkisch. Vor kurzem war die 27-Jährige, die in Hamburg als Deutschlehrerin auf Zeit arbeitete, bei einem Austausch in Izmir zu Gast. Zwischen ihren beiden Türkeierfahrungen liegen Anschläge, der Putschversuch 2015 und Verhaftungswellen. «Ich möchte die aktuelle Politik dieses Landes durch einen Besuch nicht unterstützen», sagt Somann. «Aber ich möchte die Kolleginnen und Kollegen dort auch nicht im Stich lassen.» Sie hält es für wichtig, dass persönliche Kontakte bleiben – gerade jetzt.
Dass die junge Lehrerin Anfang 2017 trotz ihrer Zweifel am Bildungsaustausch teilnahm, ist nach einer kleinen Umfrage unter Organisationen und Stiftungen fast schon eine Ausnahme. «Das Interesse an der Türkei geht heftig zurück», berichtet Markus Symmank, Leiter des Referats Mobilität beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Früher seien zum Beispiel mehr als 2000 Hochschüler im Jahr mit einem DAAD-Programm in die Türkeigereist. «Es ist zu erwarten, dass sich die Zahl im Vergleich zum Jahr 2014 beinahe halbiert», sagt er.
Häufigstes Argument sei die Sicherheitslage. «Verständlich einerseits, aber schade», bedauert Symmank. Denn Deutschland sei beim Akademiker-Austausch der wichtigste Partner der Türkei gewesen. Die Verbindungen reichen über Hochschulen bis in den öffentlichen Sektor und die Industrie. «Gerade in der jetzigen Lage ist es wichtig, jene zu stärken, die offen sind», sagt DAAD-Generalsekretärin Dorothea Rüland. «Ebenso wichtig ist es, gleichzeitig daran zu erinnern, dass die Freiheit von Forschung und Lehre für uns nicht verhandelbar ist.» Der DAAD hofft, dass sich der Austausch langfristig wieder stabilisiert.
Hinter den Kulissen sieht das zur Zeit anders aus. Bei Austausch-Organisationen protestieren Eltern, weil sie selbst erwachsenen Kindern einen Aufenthalt in der Türkei verbieten wollen. Hochschulen diskutieren, wie sie mit der «neuen Türkei» umgehen – und meinen nicht allein das Thema Sicherheit. Dozenten erleben, dass es am Bosporus eine völlig andere Wahrnehmung der politischen Situation gibt – und das Eingreifen des Staats in das zivile Leben als Schutz der Bürger interpretiert wird. So mancher Akademiker bezeichnet die andere Seite hinter vorgehaltener Hand als «gehirngewaschen».
«2012 war Erdogan nicht so präsent wie jetzt»
So würde es Laura Somann nicht ausdrücken. «Als ich 2011/12 in der Türkei war, war Erdogan nicht so präsent wie jetzt 2017», berichtet sie. Bei ihrem jüngsten Besuch hatte sie den Eindruck, dass Menschen in Izmir auf der Straße weniger offen ihre Meinung sagen. «Türkische Kolleginnen und Kollegen haben uns auch eher davon abgeraten, das zu tun.» In internen Diskussionen redeten sie aber ganz offen. «Dann merke ich, dass sie den Demokratieverlust auch sehen, und ich spüre, wie sie das schmerzt.» Im Gedächtnis bleibt Somann ihr Besuch in einer Schulbibliothek. «In jedem Schulbuch prangte auf der ersten Seite ein Bild von Erdogan.»
Doch auch in der Hamburger Schule, in der Somann zwei Jahre lang Deutsch als Fremdsprache unterrichtete, spürte sie Veränderungen. «Die Hälfte der Schülerinnen und Schüler hat türkische Wurzeln. Aber sie klammern Politik eher aus, weil ihre Familien ganz unterschiedlich darüber denken. Ich glaube, sie versuchen auf diese Weise, Konflikte zu vermeiden.» Bei deutschen Teenagern sei das Türkei-Interesse eingeschlafen.
Das spürt auch der Verein AFS für Interkulturelle Begegnungen. Hier sank die Zahl der Austauschschüler, die für ein Jahr in die Türkei gehen, zwischen 2011 und 2017 von 19 auf 2. Die gemeinnützige Organisation ist eine der wenigen, die das Angebot aufrecht erhält. Die Austauschorganisation Youth For Understanding (YFU) entschied für 2016, aus Sicherheitsgründen keine Jugendlichen aus Deutschland mehr in die Türkei zu schicken. 2017 gab es kaum noch Interesse daran.
Ganz anders auf türkischer Seite. Bewerbungen für einen Austausch mit Deutschland nähmen stetig zu, sagt Jantje Theege vom Hamburger YFU-Büro. Doch nun gibt es ein neues Problem: Anders als früher finden sich kaum Gastfamilien. «Dass es so schwierig wird, ist neu für uns», ergänzt Theege. Es sei schon immer eine größere Herausforderung gewesen, zum Beispiel Jungen und Mädchen aus China bei deutschen Familien unterzubringen als Teenager aus den USA. Die Nähe von Kulturen und die Sprache spiele natürlich eine Rolle. Aber der Widerstand gegen die Türkei – «das ist schon extrem im Moment». Ein Kompromiss war in diesem Jahr ein deutsch-türkisches Teenagercamp – in einer Jugendherberge bei Bremen.
Nuri Barcin: «Da hat sich gar nichts verändert»
Auch die Mercator-Stiftung, die den Bildungsaustausch mit der Türkei in den vergangenen drei Jahren mit mehr als acht Millionen Euro unterstützt hat, spürt den Zwiespalt. Der Rückgang des Interesses auf deutscher Seite sei wegen der aktuellen Lage nachvollziehbar, sagt Anne Duncker, Bereichsleiterin Internationale Verständigung. Und alle Projekte in der Türkei ruhten zur Zeit aus Sicherheitsgründen.
Die Zurückhaltung deutscher Gastfamilien aber sei bedauerlich, gerade weil das Interesse türkischer Schüler steige. «Das unterstreicht unser Empfinden, dass weite Teile der türkischen Zivilgesellschaft weiterhin sehr großes Interesse an Deutschland und Europa haben», sagt Duncker. «Mindestens die Hälfte aller Bürger der Türkei hat Erdogan nicht unterstützt bei der letzten Wahl.» Sie suchten gerade jetzt Anschluss.
Im beschaulichen Lauenburg an der Elbe kann Nuri Barcin die Nachfrage nicht ganz nachvollziehen. «Ich organisiere seit fünf Jahren einen Jugendaustausch mit Tokat in Anatolien. Da hat sich gar nichts verändert», sagt er. Barcins Familie kommt aus der Türkei. Der 40-Jährige ist in Deutschland aufgewachsen und arbeitet als Maschinen- und Anlagenführer. Er engagiert sich beim türkischen Elternverein und pfeift beim örtlichen Fußballclub. Und er macht sich dafür stark, dass sich rund 30 Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren aus Tokat und Lauenburg treffen. Die Kulturen sollen sich kennenlernen, sagt Barcin.
In diesem Jahr haben sie den Teenagern aus Anatolien erklärt, was Ostern ist. «Wir haben auch Eier gesucht.» Die türkischen Jungen und Mädchen lernen in der Schule Deutsch. Die deutschen Teenager schnappten schnell ein paar türkische Brocken auf. «Über die Jahre sind so Freundschaften entstanden.»
Nächstes Jahr steht der Gegenbesuch in Tokat an. Es soll dann um die türkische Kultur gehen, um Musik, Tanz – «und natürlich auch das Essen», sagt Barcin. Das Interesse bei den Familien in Lauenburg sei leider kleiner geworden, bedauert er. Verstehen kann Nuri Barcin das nicht. «Aus meiner Sicht hat sich in der Türkei nichts verändert. Einen Verlust an Demokratie sehe ich nicht.»
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