Politik
„Wir sind nicht der Sündenbock für die gescheiterte Belagerung von Wien“
Die Unruhe unter den Krimtürken nach der Wiedereingliederung der Krim in den russischen Staatsverband ist immer noch stark ausgeprägt. Im Interview mit DTJ nimmt Fethi Kurtiy Şahin zur aktuellen Entwicklung Stellung. (Foto: Burak Eres)
Fethi Kurtiy Şahin vom Krimtürkischen Verein für Kultur und Hilfeleistung beantwortet die Fragen von DTJ-ONLINE bezüglich der Geschichte der Krimtataren und der aktuellen Geschehnisse auf der Krim.
In Deutschland weiß man kaum etwas über die Krimtataren. Wer sind sie und wo liegt ihr Ursprung?
Die Krimtataren, die nördlich des Schwarzmeers auf der Halbinsel Krim leben, sind ein Turkvolk. Sie sind die Erben der Goldenen Horde und des Khanats der Krim. Nachdem die Krim 1783 von Russland annektiert worden war, wanderten sie in großen Gruppen unter erschwerten Bedingungen in die ehemaligen Provinzen des Osmanischen Reiches wie zum Beispiel nach Rumänien, Bulgarien und auch in die heutige Türkei aus. Die Menschen, die auf der Krim blieben, wurden zu Sowjetzeiten unterdrückt, mit der Folge, dass sie 1944 auch ins Exil geschickt wurden. Dies bildete den Höhepunkt der schleichenden Vertreibung aus ihrer eigenen Heimat. In den 70er-Jahren bildete sich dann unter den Krimtataren trotz großen Drucks eine nationale Befreiungsbewegung und sie kehrten schließlich, nachdem die Sowjetunion sich aufgelöst hatte, wieder in die Heimat auf der Krim zurück. Heute ist das Ziel der Krimtataren, welche in der Diaspora leben, ihr fast ausgerottetes Volk und ihre Zivilisation auf der Krim wieder aufblühen zu lassen und zu bewahren.
In Russland gibt es zum Beispiel noch eine autonome Republik, Tatarstan. Was sind denn die Unterschiede zwischen den Tatarstan-Tataren und Ihrem Volk?
Unsere Brüder, die in Tatarstan leben, sind die Enkelkinder der Khanate Kasan, Sibir, Hacıtarhan, des Khanats der Krim und der Nogaier-Horde. Diese sind auch ein Teil des türkischen Volkes. Wegen des Namens Tatar kommt es zu Verwechslungen. Der Krimtatar ist dem Tatarstan-Tataren genauso nah wie dem Usbeken und dem Kasachen. Man sollte mich nicht falsch verstehen: Wenn ich sage, dass es zwischen uns Unterschiede gibt, heißt das nicht, dass wir unterschiedliche Völker sind. Wir haben eine gemeinsame Geschichte, aber bedingt durch den Namen denkt man meistens, dass wir dieselbe Gruppe sind. Nachdem Russland das Khanat Kasan erobert hatte, existierte das Khanat der Krim noch ungefähr 200 Jahre. Dadurch entwickelten beide Gruppen unterschiedliche Eigenschaften.
Die Krimtataren haben im vergangenen Jahrhundert viel Leid erlitten. Viele wissen auch nicht, wie die Krim unter den Osmanen aussah. Manche kennen die Legende von Murat Giray und Kara Mustafa Paşa aus Merzifon während der zweiten Belagerung Wiens. Wie sahen die Beziehungen zwischen den Krimtataren und Osmanen aus?
Die Krim wurde während der Ära Sultans Mehmed des Eroberers osmanisch. Jedoch war die Krim nie eine normale Provinz wie etwa andere Provinzen im Osmanischen Reich. In den Kriegen der Osmanen gegen Europa oder den Iran gab die Krim wichtige militärische Unterstützung. Historiker schreiben sogar, dass die Khane der Krim, während sie unter osmanischer Kontrolle waren, Bezeichnungen wie „Sultan-ı Azam“, also großer Sultan, erhielten, was seitens der Osmanen auch kein Problem darstellte. Von Istanbul aus wurden nach Bahçesaray, also der Hauptstadt des Khanats, auch keine Befehle gesendet, sogenannte „Ferman“, sondern ganz im Gegenteil: Man bat um eine Sache und sandte Briefe. Die Osmanen hatten über die Khane der Krim große Macht, jedoch schätzte und respektierte man die Herrscherfamilie. Lange Zeit, sogar als Russland sich zu einem Imperium entwickelt hatte, zahlte das Land dem Khanat der Krim Steuern.
Die Legenden rund um die Belagerung Wiens werden in der populären Geschichte immer wieder erzählt und man sucht einen Sündenbock, hier die Krimtataren. Die Wahrheit ist anders. Wenn man die Schriften qualifizierter Historiker betrachtet, erkennt man dies. Außerdem ist es falsch, eine 300-jährige Beziehung auf ein Gerücht zu reduzieren.
Können Sie uns die tragische Geschichte der Krimtataren während des Zweiten Weltkrieges erzählen?
Die Krimtataren wurden aufgrund der Behauptung, dass sie mit den Deutschen eine Allianz eingegangen wären, in den Ural, nach Sibirien oder nach Usbekistan vertrieben. Die Behauptung ist nicht wahrheitsgetreu und wurde auch einige Jahre später von der sowjetischen Regierung zurückgenommen. Ganz im Gegenteil haben die Tataren gemeinsam mit den Russen im Zweiten Weltkrieg gegen Nazideutschland gekämpft. Nachdem die durch Stalin aufgebrachte Behauptung zurückgenommen wurde, verhinderte man aber immer noch eine Rückkehr der Krimtataren in die eigene Heimat. Dies zeigt auch das eigentliche Ziel der Sowjetunion ganz deutlich, nämlich die strategisch wichtige Halbinsel Krim zu russifizieren. In den folgenden Jahren kämpften die Krimtataren gegen die Ausrottung des eigenen Volkes.
Wie waren die Verhältnisse mit Deutschland zum Zeitpunkt des Zweiten Weltkrieges und wie ist diese Beziehung momentan?
Während des Zweiten Weltkrieges wurde eine deutsche Verwaltung auf der Krim gegründet. Nur der Kulturminister war hier ein Krimtatar. Die restlichen Minister waren Russen, da die meisten Krimtataren während dieser Zeit im russischen Heer waren. Deshalb entspricht die Behauptung einer Allianz der Krimtataren mit den Nazis nicht der Realität. Natürlich entscheiden sich manche während eines Krieges für die andere Seite. Jedoch kann man auf Grund der Handlungen Einzelner nicht ein ganzes Volk verurteilen. Das deutsche Volk weiß, wie miserabel die Umstände in einem Krieg sind und sie werden uns verstehen. Als die deutsche Armee die Krim verließ, ging auch eine Gruppe Krimtataren mit diesen fort. Diese Leute flüchteten, da sie Befürchtungen hatten, die eigene Identität und Religion zu verlieren. Die darauffolgende Verbannung der Krimtataren durch die sowjetische Regierung bestätigte ihre Ängste. Heute leben noch die Nachkommen dieser Krimtataren in Deutschland und sind in NGOs aktiv.
Wie ist die Beziehung der Krimtataren zur türkischen Republik?
Die in der Türkei lebenden Krimtataren sind treue Bürger der türkischen Republik. Die gegründeten Vereine und NGOs zeigen auch, dass sie aktiv an der Gesellschaft teilhaben. Viele Krimtataren sind heutzutage in den verschiedensten Positionen als Akademiker oder Politiker tätig. Darüber hinaus spielten Krimtataren auch bei der Gründung der Türkei eine große Rolle, sowie auch schon in der Schlacht von Gallipoli. Unsere Brüder in der Türkei haben uns immer willkommen geheißen. Die Beziehungen sind sehr gut.
Was ist die Bedeutung der Flagge der Krimtataren?
Unsere Flagge hat die Farbe des Türkentums, himmelblau. Das gelbe Siegel ist die „Tarak Tamga” unseres Khanats. Es gibt verschiedene Geschichten über dieses Siegel: Manche sagen, dass es eine Waage symbolisiert und andere, dass dieses Siegel die Khane und deren Erbfolgen darstellt. Die Turkvölker hatten immer ein eigenes Stammessiegel und dieses Siegel wurde dafür verwendet, um zum Beispiel Tiere oder anderes Gut zu markieren.
Was denken Sie über das Referendum und über die Vereinigung der Krim mit Russland?
Momentan sind die Entscheidungen der Krim-Regierung nicht legitim. Wie können Entscheidungen unter Schatten der Waffen legitim sein? Normalerweise hätte die ukrainische Regierung in Kiew das Referendum bestätigen müssen, aber das Referendum wurde ohne Kiew durchgeführt. Die Soldaten müssen sich in kürzester Zeit zurückziehen. Dieser internationale Rechtsbruch muss ein Ende haben.
Am Referendum haben sogar verstorbene Menschen teilgenommen. Das ist die russische Art der Demokratie, die Ergebnisse sind dementsprechend „zuverlässig”. Das Parlament des krimtatarischen Volkes hat das Referendum boykottiert. Zusammen mit den Krimtataren haben auch die Ukrainer nicht gewählt (macht ungefähr 20%). Dennoch redet man von 90% Wahlbeteiligung. Die sogenannte Unabhängigkeit wurde direkt von Russland anerkannt und innerhalb weniger Tage wurde das Land ein Teil Russlands. Die Expansionslust Russlands kann man nicht akzeptieren. Neue Gesetze zeigen, dass die Lage der Krimtataren im Land immer schlechter wird. Mit mehreren Demonstrationen in den verschiedensten Städten, unter anderem auch in Berlin, haben wir gezeigt, dass wir hinter unseren krimtatarischen Brüdern stehen.
Als Letztes möchte ich noch die Frage stellen, was die Krimtataren bezüglich der aktuellen Ereignisse von Deutschland und der Türkei erwarten?
Unsere Erwartung ist eigentlich ganz klar. Wir möchten, dass die russischen Besatzungssoldaten die Krim verlassen und somit dem Chaos ein Ende gesetzt wird. In diesem Zusammenhang verlangen wir von Ländern wie der Türkei und Deutschland internationale Hilfe, um den Rechtsbruch zu stoppen. Wir verlangen eigentlich von der ganzen Welt, dass die ukrainischen Grenzen respektiert werden und die russische Besatzung aufhört. Denn nur so werden die Rechte der Krimtataren auch gewährleistet. Was ich noch unterstreichen möchte, ist, dass wir Krimtataren zu keinem Volk eine Feindschaft hegen. Im Gegenteil: Wir möchten auf der Krim mit den anderen Völkern in Frieden weiterleben.
Fethi Kurtiy Şahin studierte Internationale Beziehungen in Ankara und macht derzeit seinen Master im Bereich der Eurasien-Studien. Im Krimtürkischen Verein für Kultur und Hilfeleistung ist er für die Jugendabteilung zuständig.
You must be logged in to post a comment Login